11. Oktober 2024

Pilotprojekt liefert erstmals automatisiert Schiffsrouten durch treibendes Meereis

  • Im Rahmen des Forschungsprojekts FAST-CAST 2 wurde unter Beteiligung des DLR ein neues satellitengestütztes Verfahren entwickelt, das für Schiffe in polaren, eisbedeckten Gewässern optimale Schiffsrouten berechnet.
  • Erprobt wurde die automatische Routenberechnung nun erstmals an Bord des Forschungseisbrechers Polarstern.
  • Hochaufgelöste Aufnahmen der Radarsatelliten TerraSAR-X und Sentinel-1 sowie Vorhersagemodelle bilden die Basis der neuen Routenberechnung.
  • Schwerpunkte: Raumfahrt, Erdbeobachtung, Verkehr, maritime Sicherheit

Die Navigation von Schiffen durch eisbedeckte Gewässer ist eine große Herausforderung für Mensch und Technik, denn Meereis unterliegt ständigen Veränderungen. Innerhalb weniger Stunden können Winde und Meeresströmungen große Eismassen zusammenschieben und offene Wasserbereiche schließen. Wird der Druck zu stark, stapeln sich Eisschollen über- und untereinander. So gebildetes Packeis kann meterdick werden und auch für Eisbrecher unpassierbar sein. Andernorts können entgegengesetzte Kräfte das Meereis aufbrechen und offene Fahrrinnen bilden. Im Rahmen des Forschungsprojekts FAST-CAST 2 wurde unter Beteiligung des Deutschen Zentrums für Luft- ud Raumfahrt (DLR) ein neues satellitengestütztes Verfahren entwickelt, das für Schiffe in polaren, eisbedeckten Gewässern optimale Schiffsrouten berechnet. Der neuartige Algorithmus ist nun erstmals in der Lage, Schiffsrouten durch driftende Eisschollen und sich verändernde Eisfelder zu berechnen. Die Basis hierfür bilden hochaufgelöste Radarsatellitenaufnahmen und Eisdrift-Vorhersagemodelle.

Was Satelliten sehen

Erdbeobachtungssatelliten liefern aus dem Weltall aktuelle Aufnahmen der Erdoberfläche und bilden damit Ozeane und Meereis ab. Radarsatelliten wie der europäische Sentinel-1 oder der deutsche TerraSAR-X zeigen hochaufgelöst verschiedene Strukturen im Meereis – dank ihrer aktiven Radarantenne bei jedem Wetter, durch Wolken und in Dunkelheit. Aus ihren Orbits in mehreren hundert Kilometer Höhe senden sie ein Radarsignal aus, das von der Erdoberfläche je nach Art des Untergrunds unterschiedlich reflektiert wird. Vom Satelliten wird dann das reflektierte „Echo“ gemessen, die sogenannte Rückstreuung. Unterschiedliche Radar-Rückstreueigenschaften erlauben tiefergehende Rückschlüsse über Eis-Eigenschaften, die dem menschlichen Betrachter nicht direkt sichtbar werden – Eigenschaften wie beispielsweise das Eisalter. Das Alter ist ein wichtiger Parameter für die Navigation durch das Meereis, denn neu gebildetes Eis ist dünner und somit leichter befahrbar als älteres, mehrjähriges Eis. Darüber hinaus zeigt die Analyse zeitlich aufeinanderfolgender Radaraufnahmen hochaufgelöst Änderungen im Eis durch Verdriftung. So lassen sich auch besondere Gefahrengebiete lokalisieren, in denen das Eis zusammengestaucht wurde.

Ein Quantensprung: Von der Meereiskartierung zur Routenberechnung

Seit Jahrzehnten werden Radarsatelliten eingesetzt, um die aktuellen Meereisbedingungen zu kartieren. Das Forschungsprojekt FAST-CAST 2 geht weit über die Erstellung eines Lagebilds hinaus.

Im Rahmen des Projekts, aufbauend auf mehreren vorangegangenen Forschungsprojekten (MAP-BORealis, EisKlass31, EisKlass2), haben Forschende des DLR-Instituts für Methodik der Fernerkundung eine Algorithmik entwickelt, die zunächst das Eis unter Einbeziehung von Polarisationseigenschaften des zurückgestreuten Radarsignals hinsichtlich seines Alters kartiert. Dieser Verarbeitungsschritt erfolgt vollautomatisch an der vom Deutschen Fernerkundungsdatenzentrum (DFD) betriebenen Satellitendaten-Empfangsstation direkt nach dem Empfang neuer Satellitenbilder.

Zusätzlich schätzt der Algorithmus mithilfe von hochaufgelösten Modellen zur Eisdriftvorhersage die zukünftigen Eisbewegungen ab und überträgt diesen räumlich-zeitlichen Datensatz automatisiert zu den Projektpartnern der Universität Bremen. Diese berechnen daraus optimale Schiffsrouten. Die räumliche Auflösung, mit der gearbeitet wird, beträgt 160 Meter, der Zeithorizont umfasst die nächsten 72 Stunden. Die berechnete Route wird dann mit Hilfe der von Drift+Noise Polar Services GmbH entwickelten App IcySea innerhalb kürzester Zeit den Navigatoren auf der Brücke der Polarstern zur Verfügung gestellt.

Im Frühjahr 2024 wurde bereits ein vorbereitender Test in den Gewässern vor Westgrönland durchgeführt. Dabei basierten die Routen, die für ein Versorgungsschiff der Royal Arctic Line berechnet wurden, noch auf statischen Eiskarten. Dynamische Eisbewegungen wurden nicht berücksichtigt.

Vom 22. September bis 2. Oktober 2024 wurde nun erstmals die gesamte Prozesskette unter Einbeziehung der dynamischen Eisbewegungen an Bord der Polarstern getestet. Auf dem Forschungseisbrecher des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), führen Forschende regelmäßig Meereisdickenmessungen vor Ort durch. Im Rahmen der Forschungsexpedition ArcWatch 2 steuerte das Schiff verschiedene Stationen in der zentralen Arktis an. Dort haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Messwerte erhoben, um die großräumigen Veränderungen im arktischen Meereis, im Ozean und in der Atmosphäre zu erfassen. Für die Fahrt zwischen den Stationen wurden nun konkrete Routenvorschläge berechnet.

Während weite Teile der zentralen Arktis eine dramatisch dünne Eisbedeckung zeigen und das Meereis zunehmend schwindet, war gerade im Testzeitraum das Meereis an den Stationen von einer ungewöhnlich dichten Eisdecke dominiert. Die Auswertung der Radar-Satellitenaufnahmen zeigen in einem Umkreis von etwa 100 Kilometern um den Eisbrecher herum überwiegend mehrjähriges Eis, einige Bereiche mit einjährigem und jüngerem Eis, sowie vereinzelt offene Fahrrinnen, die dem Schiffsradar aufgrund seiner geringeren Reichweite von nur wenigen Kilometern verborgen bleiben – ebenso verborgen wie die zukünftige Eisbewegung. Der entwickelte Algorithmus zur Routenberechnung findet den schnellsten Weg durch ein „Labyrinth“ driftenden Meereises, bevorzugt dabei offene Fahrrinnen und Bereiche jüngeren Eises und meidet Gefahrengebiete wie Untiefen. Letztere werden vom Projektpartner EOMAP GmbH & Co. KG aus aktuellen optischen Satellitendaten abgeleitet, da die Topographie des Meeresbodens in der Arktis auch heute noch nur unzureichend erfasst ist.

Von der Brücke der Polarstern wurden die berechneten Routen mit großem Interesse aufgenommen und zusammen mit anderen Informationen für die Navigation durch das Eis verwendet. Die durchgeführten Tests haben die Sinnhaftigkeit der Routen bestätigt und gezeigt, dass besonders längere Strecken durch das Eis von der neu entwickelten Technik profitieren können.

„Nach jahrelanger Entwicklungsarbeit war dieser Test eine großartige Gelegenheit wertvolles Feedback zu sammeln. Wir sind damit unserem Ziel, die polare Schifffahrt sicherer und effizienter zu machen, ein wesentliches Stück nähergekommen.“, erklärt Dr. Christine Eis von der Universität Bremen, wissenschaftliche Leiterin des Projekts FAST-CAST 2.

Das Experiment an Bord der Polarstern war ein erster Testlauf, der vor allem darauf abzielte, die Meinung der Seeleute auf der Brücke in die Entwicklung einzubeziehen. Es bedarf weiterer Tests, um festzustellen, wie gut die Routenberechnung unter verschiedenen Umweltbedingungen ist und welche Verbesserungen notwendig sind, damit solche Routenvorschläge in der Zukunft vielleicht dauerhaft in die Entscheidungsfindung an Bord von eisgängigen Schiffen einbezogen werden können.

Weiterführende Links

Über FAST-CAST 2

Das Projekt FAST-CAST 2 wird im Rahmen der Förderrichtlinie Modernitätsfonds („mFUND“) durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr mit insgesamt rund 1,4 Millionen Euro gefördert. Beteiligt sind neben der Forschungsstelle für Maritime Sicherheit Bremen des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) die Firmen Drift+Noise Polar Services GmbH aus Bremen und EOMAP GmbH & Co. KG aus Seefeld sowie die Universität Bremen als Verbundkoordinator.

Das Experiment wurde unterstützt vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), der DLR-Forschungsstelle Maritime Sicherheit Neustrelitz, dem DLR-Team Neue SAR-Anwendungen Oberpfaffenhofen und der der europäischen Weltraumorganisation ESA.

Kontakt

Philipp Burtscheidt

Presseredaktion
Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)
Kommunikation
Linder Höhe, 51147 Köln
Tel: +49 2203 601-2323

Dr. Anja Frost

Institut für Methodik der Fernerkundung
Forschungsstelle für Maritime Sicherheit Bremen
Am Fallturm 9, 28359 Bremen