Per aspera ad astra
Am 9. Juli 2024 um genau 21:00 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit begann eine neue Ära der europäischen Raumfahrt: Das gewaltige Vulcain-2.1-Triebwerk zündet und mit einem Bilderbuchstart vom europäischen Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guyana begibt sich die europäische Ariane-6-Trägerrakete auf ihren Erstflug ins All. „Los, los, los!“ So wie tausende anderer Menschen in aller Welt sitzt Anja Frank wie gebannt vor dem Bildschirm. Doch für sie ist es nicht einfach eine Rakete, die dort startet – es ist „ihre“ Rakete. Anja Frank ist als Abteilungsleiterin am DLR-Institut für Raumfahrtantriebe am Standort Lampoldshausen verantwortlich für die Durchführung, Überwachung und Kontrolle der dort stattfindenden Raketentests. Bei jedem wichtigen Schritt fiebert sie mit: beim Start der Unterstufe, bei der Zündung der Oberstufe und dann bei der zweiten Zündung. All das hat sie schon einmal erlebt, allerdings nicht am Raketenstartplatz oder vor dem Computer, sondern an einem ungewöhnlichen Ort nahe Stuttgart …
Der Standort Lampoldshausen ist idyllisch gelegen, inmitten von bewaldeten Hügeln und umgeben von Feldern und kleinen Flusstälern. Vögel zwitschern in den Bäumen, ein Feldhase hoppelt gemächlich über eine Wiese. Ein kleines Naturparadies, könnte man meinen. Doch dann durchbricht ein Geräusch die Stille: Zehnmal ertönt ein lauter Warnton – dann öffnen sich die Schleusen der Hölle. Ein tiefes Grollen erfüllt die Luft und gewaltige Dampfschwaden ziehen gen Himmel. Wenn in Lampoldshausen große Triebwerke oder Raketenstufen getestet werden, dann ist es im gesamten Umkreis zu hören.
Ein Konzept für eine zukunftsfähige Trägerrakete
Rund zehn Jahre ist es her, dass die Weichen für die Nachfolge der erfolgreichen Ariane-5-Trägerrakete auf der ESA-Ministerratskonferenz im Dezember 2014 in Luxemburg gestellt wurden. Zehn Jahre, in denen Anforderungen und Konzepte erstellt, verworfen und neu gedacht wurden. Zehn Jahre auch, in denen sich im Trägersektor und an den weltpolitischen Rahmenbedingungen einiges geändert hat.
„Die wichtigste Aufgabe des europäischen Trägerraketenprogramms ist es schon immer gewesen, die Unabhängigkeit Europas in der Raumfahrt zu garantieren. Im Hinblick auf die weltpolitischen Entwicklungen ist dieses Ziel heute wichtiger denn je“, erklärt Dr. Walther Pelzer, Vorstandsmitglied des DLR und Generaldirektor der Deutschen Raumfahrtagentur im DLR. „Mit der Fertigstellung der neuen Ariane 6 haben wir unsere Autonomie auch für die Zukunft sichergestellt.“
Der lange Weg in den Weltraum
Der Weg dorthin war steiniger als zunächst angenommen. Bereits für das Jahr 2020 geplant, verzögerte sich der Erststart um vier Jahre. „Rückblickend kann man sagen, dass die Zeitplanung zu Beginn sehr optimistisch gewesen ist“, erläutert Denis Regenbrecht, Ariane-6-Progammverantwortlicher in der Deutschen Raumfahrtagentur. „Bei Neuentwicklungen in dieser Größenordnung sind die organisatorischen, planerischen und technischen Herausforderungen immens – das Risiko, dass es bei solchen Projekten zu Verzögerungen kommt, ist daher besonders hoch.“ Die Mehrkosten für Entwicklung und Bau des Flugsegments trägt die Raumfahrtindustrie zum Großteil selbst, lediglich die höheren Kosten für das Bodensegment werden von den Teilnehmerstaaten des Ariane-Programms übernommen.
Zusätzlich wurden vor allem die Aufbauarbeiten am Startplatz in Kourou durch die Corona-Pandemie stark beeinträchtigt, aber auch die Entwicklungs- und Produktionsaktivitäten in Europa waren davon betroffen. „Jetzt sind wir glücklich, dass alle Hürden genommen wurden und Ariane 6 für den europäischen Nutzlastmarkt bereitsteht. Per aspera ad astra, also durch Mühsal zu den Sternen, könnte man sagen“, so Regenbrecht.
Flexibilisierung bei den Nutzlasten
Ariane 6 wartet mit zwei verschiedenen Versionen auf: Die größere Ariane 64 mit vier Feststoffboostern soll unter anderem die Aufgaben von Ariane 5 übernehmen, also Doppelstarts sowie den Transport von großen institutionellen Nutzlasten. Aufgabe der kleineren Ariane 62 mit zwei Boostern wird es sein, vor allem leichtere Nutzlasten von institutionellen europäischen Kunden wie der Europäischen Weltraumorganisation ESA oder der Europäischen Union zu starten. Zu diesen Nutzlasten zählen etwa die Erdbeobachtungssatelliten des europäischen Copernicus-Programms oder die Satelliten des europäischen Galileo-Navigationssystems.
Doch nicht nur die Nutzlastkapazität von Ariane 6 ist flexibler als die ihrer Vorgängerin, sondern auch ihre Anwendungsmöglichkeiten. Verantwortlich dafür ist die Fähigkeit des erneuerten Vinci-Oberstufentriebwerks, mehrfach zu zünden. Hierdurch können Satelliten versetzt an verschiedenen Orten im Weltall ausgesetzt werden. Dies ist die Grundvoraussetzung dafür, sogenannte Megakonstellationen – also ganze Schwärme von Satelliten – im All zu installieren. Diese Orbiter fliegen dann, aufgereiht wie an einer Perlenschnur, in Formation.
Das neue Konzept wird vom Nutzlastmarkt gut angenommen: Alle Starts bis zum Jahr 2027 sind „ausverkauft“. Das liegt nicht zuletzt an einem Vertrag mit dem kommerziellen Kunden Amazon, für den mit 18 Raketen ein Teil der Kuiper-Konstellation mit bis zu 40 Satelliten pro Start ins All transportiert werden soll. Auch für die Zukunft bietet die neue Technik Potenzial, denn die Wiederzündbarkeit und die Möglichkeit, auch komplexe Orbits anzusteuern, sind Voraussetzungen für Missionen zu Mond oder Mars.
Über das Ariane-6-Programm
Die deutsche Beteiligung am Ariane-6-Programm der Europäischen Weltraumorganisation ESA wird durch die Deutsche Raumfahrtagentur im DLR gesteuert. ArianeGroup als Hauptauftragnehmer ist verantwortlich für Entwicklung und Bau der gesamten Trägerrakete. Diese erfolgen in Zusammenarbeit mit der Industrie. In ihrem Auftrag werden die Triebwerks- und Oberstufentests am DLR-Standort Lampoldshausen durchgeführt. Die Vermarktung des Trägersystems übernimmt das ArianeGroup-Tochterunternehmen Arianespace. Die französische Raumfahrtagentur CNES ist verantwortlich für den Bau des Startplatzes in Kourou sowie für die dort durchzuführenden Tests.
Raumfahrt „made in Lampoldshausen“
„Von den ersten Tests des Vinci- und des Vulcain-Triebwerks über deren Weiterentwicklung bis hin zur Qualifizierung der gesamten Oberstufe war der DLR-Standort Lampoldshausen an allen Entwicklungsschritten des Ariane-6-Antriebs maßgeblich beteiligt“, sagt Dr. Anke Pagels-Kerp, DLR-Bereichsvorständin Raumfahrt. „Grund hierfür ist die nicht nur in Europa einzigartige Prüfstands- und Testinfrastruktur, sondern auch die enge Verzahnung mit der Forschung am Standort sowie die Expertise unserer Fachleute.“
Bereits das Vinci-Triebwerk, das ursprünglich für Ariane 5 entwickelt wurde, wurde am ESA-Prüfstand P4.1 getestet und qualifiziert. Dort fanden auch die Höhensimulationstests statt – eine Möglichkeit, die nur der DLR-Standort Lampoldshausen bietet. Dabei wird das Triebwerk im Vakuum getestet – also unter den Bedingungen, denen die Technik in großer Höhe ausgesetzt ist. Sie haben Auswirkungen auf die Funktion des Raketenmotors, wie das Zündverhalten und den Thermalhaushalt.
Für Ariane 6 wurde Vinci modifiziert. Das erneuerte Oberstufentriebwerk kann bis zu viermal neu gezündet werden, mit einer maximalen Gesamtbrenndauer von 14 Minuten. Ebenso wie der Vulcain-2.1-Motor ist Vinci kryogen: Der Motor wird mit flüssigem Wasserstoff und flüssigem Sauerstoff betrieben. Bei den Testkampagnen wurden die Rahmenbedingungen für den Raketenflug so realistisch wie möglich nachgestellt. Der Prüfstand übernahm dabei die Aufgaben der Raketenstufe oder der Rakete selbst. Hier wurde das Triebwerk nicht nur gezündet, es wurden auch alle Prozesse vor, während und nach einem Flug simuliert. Der Motor wurde mit Treibstoff aus den Tanks am Prüfstand versorgt. Dieser Treibstoff wurde mittels Gasdruck gefördert und so geregelt, dass für das Triebwerk Flugbedingungen simuliert werden konnten. Dann zeigt sich erstmals, ob alle Anschlüsse optimal passen und alle Systeme reibungslos zusammenarbeiten.
Die wichtigste Aufgabe des europäischen Trägerraketenprogramms ist es schon immer gewesen, die Unabhängigkeit Europas in der Raumfahrt zu garantieren. Im Hinblick auf die weltpolitischen Entwicklungen ist dieses Ziel heute wichtiger denn je. Mit der Fertigstellung der neuen Ariane 6 haben wir unsere Autonomie auch für die Zukunft sichergestellt.
Feuer und Eis: Heißlauftests als Belastungsprobe
„Die größte Herausforderung war die Erprobung der gesamten Oberstufe als Systemtest, was ungeheuer komplex ist“, so Frank. „Erstmals ist dabei auch die komplette Stufe mit integrierter Avionik, also der elektronischen Flugsteuerung, getestet worden. Dabei haben wir die Stufe ihren Flug selbstständig mit ihren eigenen Systemen machen lassen.“ Was Anja Frank so salopp formuliert, bedeutet nichts anderes, als dass die Raketenstufe alle Schritte eines regulären Flugs ins All selbstständig durchläuft – nur ohne dabei vom Boden abzuheben und natürlich mit der Kontrolle des Prüfstands. Die Kräfte, die dabei auf alle Komponenten wirken, sind enorm: Alles rüttelt und schüttelt.
Bis zu 24 Stunden dauerten die Testtage mit der Oberstufe, die in der Zeit von Oktober 2022 bis April 2024 stattfanden. Während dieser Zeit waren Material und Prüfstand extremen Belastungen ausgesetzt: Minus 253 Grad Celsius beträgt die Temperatur von tiefkaltem, also flüssigem Wasserstoff, rund 3.000 Grad heiß sind die noch brennenden Abgase, wenn sie das Triebwerk verlassen. Der Wasserdampf wird in einem riesigen Kanal nach außen geleitet, wo ein Teil des abgekühlten Wassers in einem speziellen Becken aufgefangen und für die Wiederverwendung als Kühlwasser gesammelt wird. Stattgefunden haben die Ariane-6-Oberstufentests am eigens dafür entwickelten und gebauten ESA-Prüfstand P5.2.
Auf dem Weg in die Zukunft mit Astris, PHOEBUS und Prometheus
Nach dem erfolgreichen Start von Ariane 6 heißt es nun weiter in die Zukunft blicken, denn das europäische Trägerraketenprogramm soll kontinuierlich verbessert und an neue Gegebenheiten angepasst werden, um konkurrenzfähig zu bleiben. Ein Schwerpunkt im aktuellen Leistungsverbesserungsprogramm der ESA ist beispielsweise eine weitere Steigerung der Antriebskraft, da auch das Gewicht der Nutzlasten zunimmt. Mehr Schub ist außerdem Voraussetzung für zukünftige Explorationsmissionen, etwa zu Mond oder Mars. Dabei soll auch die Kickstufe Astris helfen, denn mit ihr werden komplexe orbitale Manöver möglich.
Neue Ansätze in der Antriebstechnik verfolgen auch die Technologieentwicklungen PHOEBUS (Prototype for a Highly OptimizEd Black Upper Stage) und Prometheus. Beide sind Teil des Future Launchers Preparatory Programme der ESA, also eines Technologieprogramms zur Vorbereitung zukünftiger Trägerraketen. Bei PHOEBUS handelt es sich um ein neues Oberstufenkonzept auf Basis von Faserverbundwerkstoffen. Durch Carbontechnologie soll vor allem Gewicht eingespart werden, um Startkosten zusenken oder alternativ eine höhere Nutzlastkapazität zu erreichen. Zudem bietet dieser Werkstoff den Vorteil, dass Arbeitsschritte wie das Schweißen, Drehen oder Fräsen beim Bau der Komponenten entfallen und auch neue Formgebungen möglich sind.
Im Prometheus-Programm von ESA und CNES wird derzeit das erste europäische Hauptstufentriebwerk entwickelt, das mit einer Kombination aus flüssigem Sauerstoff und flüssigem Methan angetrieben wird. Dabei soll der Motor kostengünstig, flexibel einsetzbar und wiederverwendbar sein. Ab dem Jahr 2030 soll die Prometheus-Technologie die nächste Generation der europäischen Trägerraketen antreiben.
Egal ob Astris, PHOEBUS oder Prometheus – alle Antriebstechnologien werden am DLR-Standort Lampoldshausen erprobt. So wird dort nicht nur aktuell das Triebwerk der Astris-Stufe getestet, sondern ab dem Jahr 2025 auch die gesamte Astris-Stufe sowie die PHOEBUS-Stufe. Der Prüfstand P5 wurde bereits mit einem zusätzlichen Methantank ausgerüstet und steht in Kürze für die Tests mit Prometheus im Jahr 2025 bereit. „Was die Zukunft der europäischen Raumfahrt betrifft, führt kein Weg an uns vorbei“, sagt Frank selbstbewusst und lächelt.
Ein Beitrag von Diana Gonzalez Velden aus dem DLRmagazin 176