Artikel aus dem DLRmagazin 173: Der AVA-Versuchswagen, auch Schlörwagen genannt, war das windschnittigste Auto der Geschichte

Wie ein „Ei“ ins Rollen kam

Dr. Michael Hansen neben dem Schlörwagen
Hansen war der Vorgesetzte Karl Schlörs, der den AVA-Versuchswagen entwickelte. Der Wagen wurde aufgrund seiner Form auch „Göttinger Ei“ genannt.
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Auch wenn es der Name nicht unbedingt suggeriert, blickt auch die Verkehrsforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt auf eine lange Tradition zurück. Sowohl die Aerodynamische Versuchsanstalt (AVA) in Göttingen als auch die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL) in Berlin-Adlershof untersuchten bereits in den 1920er beziehungsweise 1930er Jahren Autos im Windkanal. Doch was passiert, wenn Flugzeugbauer beginnen, Kraftfahrzeuge zu bauen?

Nachdem 1919 der Versailler Friedensvertrag in Kraft getreten war, waren Luftfahrtforschung, das Fliegen mit leistungsstarken Motoren und der Bau von Flugmotoren im Deutschen Reich untersagt. Somit mussten sich sowohl die Luftfahrtforschungseinrichtungen als auch die Konstrukteure von Flugzeugen zunächst andere Erwerbsquellen suchen. Als Konsequenz stiegen eine Reihe von Flugzeugbauern, darunter auch Edmund Rumpler (1872–1940), auf den Automobilbau um. Sie profitierten von ihrem aerodynamischen Wissen, das sich auch auf Kraftfahrzeuge übertragen ließ.

Rumpler konstruierte den sogenannten Rumpler-Tropfenwagen, der, von oben betrachtet, wie ein Tropfen aussah und durch seine Form einen geringen Luftwiderstandsbeiwert (cw-Wert) aufwies. Ein Modell des Wagens ließ er um 1920 in der AVA im Windkanal untersuchen. In den nachfolgenden Jahren kamen auch Firmen wie Daimler auf die AVA zu, um Rennwagenmodelle im Windkanal systematisch vermessen zu lassen. Auf diese Weise erarbeitete sich die AVA ein neues Forschungsfeld und erhielt 1935 vom damaligen Reichsverkehrsministerium (RVM) den Auftrag, einen sogenannten Halbstromlinienwagen zu entwickeln, ein Fahrzeug mit stromlinienförmigem Heck.

Der Schlörwagen 1938 im Windkanal der AVA
In dem AVA-Versuchswagen fanden insgesamt sieben Personen Platz.
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Nachdem ein entsprechendes Modell im Windkanal in Göttingen eingehend untersucht worden war, erhielt die AVA vom RVM einen Folgeauftrag: die Konzeption und den Bau eines Vollstromlinienwagens als Prototyp. Charakteristisch für einen Vollstromlinienwagen ist, dass sowohl das Heck als auch die Frontpartie des Fahrzeugs stromlinienförmig gestaltet sind. Mit dieser Aufgabe wurde der Ingenieur Karl Schlör (1910–1997) betraut. Erste Experimente mit einem Modell im Windkanal zeigten, dass die neue Karosserieform im Vergleich zu den damals gängigen Kastenwagen einen deutlich geringeren cw-Wert aufwies.

Immer entlang der Stromlinie

Im nächsten Schritt galt es, das Modell in Großausführung zu bauen. Um den cw-Wert so gering wie möglich zu halten, achtete Schlör darauf, dass die Räder des Wagens von der Karosserie umgeben waren und dass alle abstehenden Teile wie Türgriffe, Blinker, und Scheinwerfer in die Karosserie eingelassen wurden. Weil die handelsüblichen Fahrgestelle für die stromlinienförmige Karosserie zu klein waren, entschied sich Schlör, ein Fahrgestell der Firma Mercedes-Benz mit einem 1,7-Liter-Heckmotor auseinanderzunehmen und die Einzelteile in veränderter Anordnung wieder zusammenzuschweißen. Deshalb befand sich die Lenksäule mittig im Wagen. Im hinteren Teil fanden auf zwei hintereinander angeordneten Sitzreihen bis zu sechs Personen Platz.

Schlörwagen mit Beutepropeller
Der Ingenieur Karl Schlör entwickelte 1938 den AVA-Versuchswagen. 1942 hatte er einen russischen Beutepropeller mit in die AVA gebracht und diesen zu Versuchszwecken an seinen Wagen montiert.
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Da die AVA keinerlei Erfahrung im Karosseriebau hatte, beauftragte sie die Firma Gebrüder Ludewig aus Essen mit dem Bau des sogenannten AVA-Versuchswagens. Dieser wurde in der Folgezeit auch als Schlörwagen bezeichnet und ist aufgrund seiner markanten Form scherzhaft als Göttinger Ei bekannt. Der Wagen wurde Ende 1938 von Schlör aus Essen in die AVA nach Göttingen überführt.

Dort wurde der Wagen im Windkanal vermessen. Sein durchschnittlicher cw-Wert lag bei gerade einmal 0,186 – zum Vergleich: Bei modernen Pkw liegt dieser etwa zwischen 0,22 und 0,35 (bei SUV bis 0,4). Auch erste Messungen des cw-Werts bei Testfahrten auf der Autobahn zwischen Göttingen und Kassel ergaben Werte um 0,189, was die Fachwelt aufgrund der konsequenten stromlinienförmigen Ausführung des Wagens nicht sonderlich überraschte.

Wunsch und Wirklichkeit: die Höchstgeschwindigkeit

Zu einer Kontroverse entwickelte sich jedoch die von Schlör ermittelte und in einem Bericht angegebene Höchstgeschwindigkeit von 146 Kilometer pro Stunde. Insbesondere der renommierte Kraftfahrzeugforscher Wunibald Kamm (1893–1966) zweifelte Schlörs Angabe an. Zudem kritisierte er die aufgrund seiner aerodynamisch günstigen Form bestehende Seitenwindanfälligkeit des AVA-Versuchswagens. Schlör konnte die Zweifel bezüglich der Höchstgeschwindigkeit nicht ausräumen. Auf einer Versuchsfahrt auf der Avus in Berlin kam der Wagen beispielsweise nur auf 110 Kilometer pro Stunde.

Göttinger Flügelprofile
Schlör wählte, basierend auf dem Modell des Halbstromlinienwagens, eine Karosserieform, die sich aus den Formen der sogenannten Göttinger Flügelprofile 570 und 571 zusammensetzte.
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Der AVA-Versuchswagen wurde im Februar 1939 auf der Automobilausstellung in Berlin gezeigt – jedoch nur vor den Toren des Ausstellungsgeländes. Auch ein Modell des Wagens, das auf dem Messegelände gezeigt wurde, musste als reines Versuchsfahrzeug deklariert werden, das nicht in Serie gebaut werden sollte. Hintergrund war, dass auf der Automobilausstellung in Berlin 1939 auch der VW-„Käfer“ erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Das RVM wollte verhindern, dass der AVA-Versuchswagen als Konkurrenz wahrgenommen werden könnte. Im Vergleich zum „Käfer“ bot der Versuchswagen aus Göttingen deutlich mehr Passagieren Platz, war schneller und hatte einen geringeren Kraftstoffverbrauch.

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde die Kraftfahrzeugforschung in der AVA eingestellt. Schlör wurde in der Folgezeit zunächst in die Außenstelle der AVA ins norwegische Finse versetzt und später zum Leiter der AVA-Außenstelle in Riga ernannt. 1942, als er sich auf Heimaturlaub in Göttingen befand, kam der AVA-Versuchswagen letztmalig zum Einsatz.

1942 fanden die letzten Fahrten des Schlörwagens statt.
Was in der Folgezeit mit dem AVA-Versuchswagen geschah, ist unklar. Aufgrund des ungeklärten Schicksals ranken sich bis heute zahlreiche Mythen um das Fahrzeug.
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In den letzten Kriegsjahren wurde der Wagen in seine Einzelteile zerlegt. 1948 versuchte Schlör, der inzwischen im Bayerischen Staatsministerium für Verkehrsangelegenheiten arbeitete, den Wagen, beziehungsweise das, was von ihm noch übrig war, aus der AVA nach Bayern zu transferieren. Er scheiterte jedoch an der britischen Militärregierung, die den Versuchswagen nicht herausgab. Was in der Folgezeit mit dem AVA-Versuchswagen geschah, ist unklar. Es ist zu vermuten, dass er eines Tages verschrottet wurde, da die Karosserie bereits 1942 stark verbeult und somit für weitere Versuchszwecke unbrauchbar war. Aufgrund des ungeklärten Schicksals ranken sich bis heute zahlreiche Mythen um das Fahrzeug. Diese reichen von der Erzählung, dass der Schlörwagen nach dem Krieg nach England gebracht wurde, bis hin zu der Theorie, dass er im „Feuersturm“ auf Riga verbrannte – beides ist allerdings ausgeschlossen, da der Wagen 1948 noch in Göttingen stand. Seine Faszination hat das Fahrzeug jedenfalls bis heute nicht verloren.

Zeitgeschichte greifbar machen

Drei Fragen an Horst-Dieter Görg, Mitglied des Vereins Mobile Welten e. V.

Herr Görg, Sie bauen zusammen mit den anderen Mitgliedern des Vereins Mobile Welten den Schlörwagen nach. Wie kommt man auf eine solche Idee?

Wir beschäftigen uns seit vielen Jahren mit dem Thema Aerodynamik. Mit seinem bis heute unerreichten Luftwiderstandsbeiwert (cw-Wert) ist der Schlörwagen ein spannendes Projekt. Glücklicherweise konnten wir schnell Partner dafür gewinnen und Kontakt zum DLR knüpfen, in dessen Vorgängerorganisation der Schlörwagen damals entwickelt wurde. Ein weiterer Punkt ist der regionale Bezug: Unser Verein ist in Hannover angesiedelt, wo damals Testfahrten stattfanden. Das macht es für uns doppelt spannend. Außerdem sind die Themen Energiesparen und Windschnittigkeit heute aktueller denn je. Ich denke, hier können wir viel aus der Vergangenheit lernen. Mit diesem Projekt möchten wir Zeitgeschichte greifbar machen.

Diplom-Ökonom Horst-Dieter Görg
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Holger Eggers

Sie haben bereits ein Eins-zu-eins-Modell gebaut. Was sind die weiteren Schritte?

Das Modell steht noch bis Ende Oktober im August-Horch-Museum in Zwickau. Damit kann man allerdings nicht fahren. 2019 entdeckten wir im Westerwald drei originale, wenn auch desolate Mercedes 170 H. Auf Basis dieses Modells entstand damals der Schlörwagen. Mit den Teilen bauen wir – parallel mit der Central Garage in Bad Homburg – aktuell zwei Schlörwagen auf. Weil uns der pädagogische Wert wichtig ist, möchten wir bei „unserem“ das „Innenleben“ sichtbar machen, vielleicht mit Acrylglas oder mit einer anderen Konstruktion. 2021/2022 wurden die Rahmen umgebaut und vor Kurzem hat unser Karosseriebauer eine Gitterkonstruktion – quasi als „Lehre“ für das noch zu fertigende Holzgerüst – aufgesetzt. Jetzt kann man schon die Außenhülle erahnen. Nun müssen wir erst einmal Geld für den Holzaufbau sammeln, denn bei uns läuft alles über Spenden und Eigenleistungen. Dieser wird sicher eine Herausforderung für den Tischler oder die Tischlerin, denn am Schlörwagen ist alles rund, da passt keine Standardleiste. Parallel möchten wir außerdem den Motor zum Leben erwecken, der ist im Moment nur ein Bausatz.

Und wo werden Sie als Erstes hinfahren?

Eigentlich würde ich gerne schon nächstes Jahr damit fahren. Genauer gesagt zu einer unserer Veranstaltungen in Dessau zum Thema Stromlinie. Da würde der Schlörwagen auch schon halbfertig gut reinpassen.

Ein Beitrag von Dr. Jessika Wichner aus dem DLRmagazin 173

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Dr. Jessika Wichner

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Julia Heil

Redaktion DLRmagazin
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