Von wegen abgelegen
Vom Tower aus kontrollieren Lotsinnen und Lotsen die Flugzeugbewegungen. Hoch über dem Rollfeld sitzend haben sie alles im Blick – fast alles, denn es gibt Bereiche, die sie selbst von dort aus nicht einsehen können. Deshalb werden gerade größere Flughäfen heute mithilfe von Sensoren überwacht. Das Konzept „Remote Tower“ geht noch weiter: Kameras liefern Videobilder, die die Sicht aus dem Towerfenster ersetzen. Diese müssen nicht zwangsweise dort angezeigt werden, wo sie aufgenommen wurden, sodass Flughäfen auch aus der Ferne kontrolliert werden können. In einem sogenannten Remote Tower Center können sogar die Sensordaten von mehreren Flughäfen zusammenlaufen. Das kann die Flugsicherung viel effizienter und flexibler machen. 2015 wurde in Schweden das erste Remote Tower Center eröffnet. Seit 2018 werden auch in Leipzig Flughäfen von Weitem überwacht. Und übernächstes Jahr soll ein Center in Braunschweig eröffnen, also in unmittelbarer Nähe des Ortes, wo das Konzept vor 20 Jahren seinen Ursprung hatte: beim DLR-Institut für Flugführung.
Den Anfang nahm Remote Tower im Jahr 2001. Damals reichte ein Team vom Institut für Flugführung die Idee des abgelegenen oder „virtuellen“ Turms (Virtual Tower), von dem aus die Flugsicherung an einem Flughafen betrieben werden kann, bei einem internen Wettbewerb des DLR ein. Das Konzept stützte sich auf Arbeiten des NASA Ames Research Centers, die bereits den Einsatz von Virtual- und Augmented-Reality-Anwendungen für den Flugverkehr untersucht hatten. Die damals visionäre Idee gewann den Wettbewerb und wurde prämiert. Also machte sich das Team daran, einen ersten Prototyp zu entwickeln, der zeigen sollte, dass das Konzept auch in der Realität funktionieren kann. Ab 2005 wurde dieser Prototyp am Flughafen Braunschweig-Wolfsburg getestet. Zur gleichen Zeit entstand am DLR-Institut die weltweit erste Remote-TowerSimulation in Form eines digitalen 180-Grad-Livevideo-Panoramas. Es folgten mehrere nationale und internationale Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten, auf die hin zahlreiche Flugsicherungsorganisationen, etwa die Schwedische Zivilluftfahrtbehörde (LFV) und die DFS Deutsche Flugsicherung GmbH, ihr Interesse bekundeten.
Eine Idee, die funktioniert
2014 konnte das DLR die Technologie in die Industrie überführen. Dabei verzeichnete das Team nicht nur Fortschritte bei der Technik: Es entwickelte auch Methoden, um die Interaktion der Lotsinnen und Lotsen mit der neuen Technik zu untersuchen und zu verbessern. Im Jahr 2015 nahm schließlich der erste Remote Tower in Sundsvall (Schweden) seinen Betrieb auf. Seitdem wird von dort die Flugsicherung für den Flughafen Örnsköldsvik betrieben. „Dieser Erfolg ließ uns weiterdenken: Wenn wir EINEN Flughafen von der Ferne aus steuern können, dann sollte es auch mit mehreren möglich sein“, sagt Jörn Jakobi aus der Abteilung Systemergonomie des DLR-Instituts für Flugführung. Dies war die Geburtsstunde des Multiple-Remote-Tower-Konzepts, dessen Kerngedanke es ist, dass ein Lotse oder eine Lotsin mehrere Flughäfen gleichzeitig überwacht. Dies soll auch in dem neuen Remote Tower Center (RTC Niedersachsen) in Braunschweig langfristig umgesetzt werden, das die DFS Aviation Services GmbH (DAS) aufbaut und das 2024 in Betrieb gehen soll. Dazu werden DAS und DLR in einem angeschlossenen Forschungscluster gemeinsam an der Weiterentwicklung des Konzepts arbeiten. „Aber wir fangen natürlich erst einmal damit an, dass ein Lotse oder eine Lotsin an maximal einem Flughafen arbeitet“, sagt Jörn Jakobi. Im nächsten Schritt werden verkehrsarme Flughäfen versuchsweise zusammengeschaltet. So können die Lotsinnen und Lotsen erst einmal Erfahrung mit der neuen Technik sammeln und sich auf die neue Situation einstellen.
Panoramasicht trotz Distanz
Damals wie heute bildet das hochaufgelöste Videopanorama das Herzstück des Remote Towers. Hier sitzen die Lotsinnen und Lotsen und überwachen die verschiedenen Teile des Flughafens. Vor Ort erzeugen mehrere, in einer Reihe installierte Kameras das Panorama. Zusätzlich gibt es neig- und schwenkbare Zoomkameras, die jedes Detail im Blick haben. Um verschiedene Szenarien zu untersuchen, steht am DLR-Institut ein Remote-Tower-Labor, das diese Arbeitsumgebung realitätsnah darstellt. „Wir können große internationale Flughäfen mit mehreren Lotsenarbeitsplätzen, aber genauso gut kleinere Flughäfen oder Flugplätze simulieren. Außerdem können wir kritische Situationen herbeiführen wie ein brennendes Triebwerk, Probleme mit dem Fahrwerk oder Abweichungen von Freigaben. Dann testen wir, ob die Lotsin oder der Lotse die kritische Situation bemerkt und ob und wie sie gelöst wird“, sagt Jakobi. Für das RTC Niedersachsen wird zusätzlich der „Zwilling“ einer realen Arbeitsposition im DLR aufgebaut und mit allen relevanten Daten des Flughafengeschehens gefüttert. So können neue Techniken und Verfahren parallel zum echten Betrieb erforscht werden.
Sicherheit steht an erster Stelle
Bevor Neuerungen im Livebetrieb getestet werden, werden umfangreiche Simulatorversuche durchgeführt. Dabei bearbeiten verschiedene Lotsinnen und Lotsen nacheinander im Simulator dasselbe Verkehrsszenario – abwechselnd mit der alten und mit der neuen Technik. Dabei schauen sich die Forschenden an, ob die Arbeitsbelastung gestiegen oder gesunken ist, aber auch, ob die Teilnehmenden die Situation gut erfasst haben, in der sie sich befinden. Sie werden befragt, ob sie die Entwicklung von Verkehrssituationen vorhersagen können und ob sie Werkzeuge haben, um kritische Situationen bewältigen zu können. „Wir müssen gewährleisten, dass das neue System einen Mehrwert schafft, also entweder effizienter oder sicherer ist, bevor wir überhaupt an eine Markteinführung denken. Keinesfalls darf es weniger sicher sein als das ursprüngliche System“, sagt Jörn Jakobi. Der Psychologe betreut das Thema Remote Tower als Projektleiter. Auch die Akzeptanz ist von großer Bedeutung, denn wenn die Nutzenden das Konzept nicht unterstützen, wird es sich kaum durchsetzen. Deshalb holen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schon frühzeitig die Meinung aus der Praxis ein.
„Wenn sich kleine Flughäfen in einem RTC zusammenschließen, können sie Ressourcen sparen und trotzdem qualifiziertere Flugsicherungsdienste kostengünstig anbieten.“
Jörn Jakobi, DLR-Projektleiter Remote Tower
Eine Frage der Balance
Ein wichtiger Indikator, um die Sicherheit des Systems bewerten zu können, ist das Stresslevel. Eine hohe Arbeitsbelastung ist besonders bei der Flugsicherung erst einmal nichts Ungewöhnliches. Auf Dauer führt sie allerdings zu Nachlässigkeiten und Fehlern. Aber auch eine Unterforderung kann fatale Folgen haben. „Wenn jemand nur beobachtet und wenig Operatives leisten muss, dann ist die Person nicht vorbereitet, wenn etwas Kritisches passiert und kann nicht angemessen reagieren“, beschreibt der DLR-Psychologe die Problematik. Normalerweise arbeiten Lotsinnen und Lotsen nach dem Vier-Augen-Prinzip, es sind also immer zwei Personen im Einsatz, um sich gegenseitig zu unterstützen. In einem Remote Tower Center werden mehrere Fluglotsinnen und -lotsen, die jeweils einen Flughafen allein überwachen, von einem Supervisor oder einer Supervisorin unterstützt. Diese Person liefert bei Bedarf das zweite Augenpaar.
Auch im Multiple-Remote-Tower-Konzept spielt diese Position eine entscheidende Rolle: Sie überwacht und verteilt die Arbeitslast. Dazu erforscht das DLR-Team neue digitale Planungstools, die es erlauben, alles im Blick zu behalten. Falls die Arbeitslast schlecht balanciert ist oder gar kritisch wird, warnt das System und hilft, eine passende Unterstützung zu finden. Wie dies funktionieren kann, zeigte der Test des Systems Ende 2021, bei dem das DLR gemeinsam mit dem Industriepartner Frequentis einen Remote-Tower-Center-Prototypen aufbaute, von dem aus litauische und polnische Fluglotsinnen und -lotsen aus der Ferne insgesamt 15 simulierte Flughäfen überwachten.
„Das ist besonders für Flugplätze mit wenig Verkehr interessant oder auch nachts, wenn heutzutage aus Kostengründen oder aufgrund von Personalengpässen keine Flugsicherung bereitgestellt wird und die Flugplätze geschlossen sind“, erklärt Jakobi. Zukünftig wäre in solchen Situationen eine Person im Center im Einsatz, die die Flughäfen in dieser Zeit überwacht. Dadurch lassen sich deren Betriebszeiten verlängern. Gleichzeitig werden sie attraktiver für Fluggäste und Luftfrachtkundschaft. Dies erhöht wiederum die Nachfrage und kann mehr Einnahmen generieren. „Das Ergebnis sind bedarfsgerechte Flugsicherungsdienste für das gesamte Flugplatznetz und Synergien für die Luftfahrt“, ergänzt Jörn Jakobi.
Mehr Verkehr an kleineren Flughäfen ermöglichen
An den 15 internationalen Flughäfen übernimmt die Deutsche Flugsicherung die Koordination des Luftverkehrs. Insgesamt gibt es in Deutschland aber rund 400 Flugplätze. Dabei sitzen an kleinen Flugplätzen häufig Flugleiter oder Flugleiterinnen, die Informationen bereitstellen, aber keine Flugsicherung durchführen. Hier müssen die Piloten und Pilotinnen nach Sichtflugregeln fliegen und sich hauptsächlich selbst koordinieren. Kommerzieller Instrumentenflug kann nicht stattfinden. „Wenn sich kleine Flughäfen in einem RTC zusammenschließen, können sie Ressourcen sparen und trotzdem qualifiziertere Flugsicherungsdienste kostengünstig anbieten“, ergänzt Jakobi. Auch das soll im RTC Niedersachsen getestet werden. Hier sollen zertifizierte Lotsinnen und Lotsen neben den Flugleiterinnen und Flugleitern sitzen, die Flugsicherungsinformationen für den Flugplatz Emden bereitstellen. Eine erste Forschungsfrage lautet daher zu untersuchen, ob die Arbeitspositionen flexibel variiert werden können beziehungsweise welche Probleme es noch zu lösen gilt. Der DLR-Psychologe Jakobi sieht einen entscheidenden Vorteil der Technik darin, dass sie die Überwachung von Flughäfen viel flexibler mache: „Das ganze System Flugsicherung wird variabler und passt sich besser an die aktuellen Gegebenheiten mit schnellen Verfügbarkeiten und flexiblem Arbeiten an.“
Keine Tower am Flughafen der Zukunft?
Wird es also auf dem Flughafen der Zukunft keine Tower mehr geben? „Bei vielen kleinen Flughäfen wird sich Remote Tower früher oder später durchsetzen“, so Jörn Jakobi. Statt in teure Neubauten oder den Erhalt bestehender Tower, könnte in Zukunft eher in günstigere Sensortechnik investiert werden. Das war ein entscheidendes Argument für den Flughafen Saarbrücken: Statt den Tower aufwändig zu renovieren, bleibt die Kanzel nun leer und die Koordination erfolgt über das Remote Tower Center in Leipzig. Der Scandinavian Mountains Airport im schwedischen Rörbäcksnäs, der 2019 eröffnete, wurde sogar ganz ohne Tower geplant und gebaut. Bereits existierende Tower müssten jedoch nicht abgerissen werden. Sie können beispielsweise als Ausweichoption dienen, wenn es Probleme im Center geben sollte. Neben solchen Ausweichoptionen sind bei den Remote-Tower-Konzepten immer auch Redundanzen enthalten, die Ausfälle auffangen.
Dass die Remote Tower so erfolgreich funktionieren, hat für Jörn Jakobi auch viel mit der engen Zusammenarbeit zu tun: „Anwender, Forschung und Industrie müssen so früh wie möglich zusammenkommen, denn die einen liefern die Anforderungen, die anderen besitzen das Forschungs-Know-how und die Dritten erarbeiten und vertreiben das marktreife Produkt.“ In Deutschland kommt als vierte Partei das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung (BAF) hinzu. Dessen Aufgabe ist es, neue Konzepte zu prüfen und zu bewilligen. Auch mit ihm steht das DLR in engem Austausch. Vor der Eröffnung des Remote Tower Centers in Leipzig trugen die DLR-Fachleute mit Forschungsergebnissen zu einem Bericht bei, auf dessen Grundlage das BAF den Betrieb bewilligte. Und auch in internationalen Gremien zur Standardisierung von Remote-Tower-Konzepten ist das DLR mitvertreten, um die Erfolgsgeschichte weiterzuschreiben.
Ein Beitrag von Michael Drews und Julia Heil aus dem DLRmagazin 171