10. April 2024 | 60 Tage liegen bleiben für die Wissenschaft

Terrestrische Astronautinnen und Astronauten für Bettruhestudie gesucht

  • Die nächste Studie in Zusammenarbeit mit der NASA erforscht ab Herbst 2024, warum Astronautinnen und Astronauten Koordinationsprobleme haben und was dagegen hilft.
  • Zwölf Probandinnen und Probanden verbringen 88 Tage im Kölner :envihab, davon 60 Tage im Bett.
  • Damit sich ein Weltraum-Effekt mit Flüssigkeitsverschiebungen einstellt, liegt der Kopf sechs Grad tiefer als die Beine.
  • Schwerpunkte: Raumfahrt, Raumfahrtmedizin

Astronautinnen und Astronauten, die auf die Erde zurückkehren, werden direkt nach der Landung umsorgt: Ein ganzes Team assistiert beim Aussteigen aus der Raumkapsel, richtet auf, stützt, führt erste Untersuchungen durch. Was aber, wenn die Landung nicht auf der Erde, sondern auf dem Mond oder dem Mars stattfindet? Dort hilft erst einmal niemand. Die Raumfahrenden sind auf sich alleine gestellt – mit all den Folgen, die ein längerer Aufenthalt in Schwerelosigkeit mit sich bringt: Schwindel, Stolpern, Koordinationsstörungen. Das kann eine Mission gefährden. Damit das nicht passiert, erforscht das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) mögliche Gegenmaßnahmen in einer Bettruhestudie. Wer ab September 2024 mitmachen möchte, kann sich noch bewerben.

Hinlegen, um die Raumfahrt voranzubringen? „Die Teilnehmenden liegen nicht nur 60 Tage im Bett. Das Bett ist außerdem zum Kopf hin um sechs Grad geneigt. Das heißt, der Kopf liegt niedriger als die Füße“, erklärt Dr. Edwin Mulder, Studienleiter am DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin in Köln. „Bei dieser Neigung verschieben sich die Flüssigkeiten im Körper fast genauso wie bei Astronautinnen und Astronauten im Weltall.“ Ohne die Erdanziehungskraft fließt mehr Flüssigkeit in die obere Körperhälfte und weniger in die Beine. Der Druck im Kopf steigt, durch die körperliche Inaktivität bauen Muskeln und Knochen ab, der Gleichgewichtssinn ist verwirrt und das Herz-Kreislauf-System verändert sich – und das sind nur einige Folgen von Aufenthalten in der Schwerelosigkeit, die sich auch in Bettruhestudien zeigen. In der aktuellen SMC-Studie (Sensorimotor Countermeasures Study), die wieder in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Luft- und Raumfahrtbehörde NASA durchgeführt wird, geht es vor allem um sensomotorische Beeinträchtigungen nach Aufenthalten im Weltraum und mögliche Gegenmaßnahmen.

Video: Forschung für die Raumfahrt der Zukunft – das DLR sucht terrestrische Astronautinnen und Astronauten
Die Bettruhestudie in Zusammenarbeit mit der NASA erforscht, wie sich längere Raumfahrt-Missionen auf Astronauten und Astronautinnen auswirken und welche Gegenmaßnahmen möglich sind. Die „Sensorimotor Countermeasures Study“ (SMC) dauert 88 Tage, 60 Tage davon verbringen die Teilnehmenden in einer Sechs-Grad-Kopftieflage im Bett. Die Studie wird im :envihab, der Forschungsanlage des DLR-Instituts für Luft- und Raumfahrtmedizin, in Köln durchgeführt.

Ein Bein heben, um ein Hindernis zu überwinden: Das kann für Raumfahrende eine Herausforderung sein

Das Zusammenspiel von Sinneswahrnehmungen – wie Hören, Sehen oder Fühlen – und motorischen Reaktionen – wie Gehen, Greifen oder Werfen – kann nach Weltraumreisen gestört sein. „Das wirkt sich bei ganz alltäglichen Dingen aus. Etwa, wenn jemand einen Stein sieht und ein Bein heben muss, um ihn zu überwinden“, sagt Andrea Nitsche vom DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin. Sie wählt zwölf Probandinnen und Probanden aus, die sich inklusive Vor- und Nachbereitung für genau 88 Tage in der Kölner Forschungsanlage :envihab aufhalten, damit zukünftige Raumfahrende sicher und koordiniert arbeiten können.

Die erste Studienkampagne im :envihab startet im September 2024, eine zweite im April 2025. Bewerben können sich jeweils Personen zwischen 24 und 55 Jahren, die eine Körpergröße von 1,53 bis 1,90 Meter und einen BMI von 18 bis 30 haben. Sie müssen außerdem gesund sein, Nichtraucher und gut Deutsch sprechen. Für die vollständige Teilnahme gibt es eine Aufwandsentschädigung von 18.000 Euro. Von den 88 Tagen werden 60 im Bett in Kopftieflage verbracht. Drei Monate nach Abschluss der Kampagne finden verpflichtende Nachuntersuchungen statt. Das Auswahlverfahren ist mehrstufig: Über die Webseite dlr-probandensuche.de füllen die Interessierten zuerst einen Fragebogen aus. Es folgen die Teilnahme an einer Online-Informationsveranstaltung, psychologische Fragebögen, Telefoninterviews, medizinische Voruntersuchungen in Köln, ein Bewertungstag und schließlich die Studie.

Die Teilnehmenden trainieren zum Beispiel Eigenwahrnehmung, Kraft und Ausdauer

Während der Kampagne wird die Wirksamkeit verschiedener Gegenmaßnahmen getestet. Die Teilnehmenden bilden vier Gruppen. Eine Gruppe absolviert ein sogenanntes propriozeptives Training in einem „Gravity Bed“, um das Gefühl für Lage, Körperhaltung und Bewegungen aufrechtzuerhalten. Das „Gravity Bed“ ist ein speziell angefertigter Simulator, in dem die Teilnehmenden auf einer Art Luftkissen im Liegen „schweben“. Die Füße werden über Gurte auf ein Kippbrett gepresst, so dass die Teilnehmenden den Eindruck haben zu stehen. Sie müssen sich in dieser Position auch bewegen und schulen so unter anderem ihren Gleichgewichtssinn. Die zweite Gruppe macht zusätzlich ein Kraft- und Ausdauertraining. Die dritte Gruppe erhält eine Muskelstimulation durch elektrische Impulse (EMS). Die vierte Gruppe liegt im Bett und beteiligt sich nicht an einer Gegenmaßnahme. „Diese Kontrollgruppe ist wissenschaftlich sehr wichtig, denn sie zeigt uns, was passiert, wenn man jede Art von Training weglässt. Die Ergebnisse der anderen Gruppen werden am Ende mit dieser Gruppe verglichen“, sagt Edwin Mulder.

Die Zuordnung erfolgt zufällig. Für alle gilt, dass tägliche medizinische Untersuchungen und Experimente auf dem Programm stehen und dass wirklich jede Tätigkeit im Liegen erledigt wird: Körperhygiene, Toilettengang, mögliche Freizeitaktivitäten, Essen. Die Probandinnen und Probanden bekommen frisch zubereitete, ausgewogene Mahlzeiten, die für ihren individuellen Bedarf auf Gramm und Milliliter berechnet sind. Die Teilnehmenden dürfen das :envihab während der 88 Tage nicht verlassen. Sie können sich aber im Bett von ihren Einzelzimmern in einen Gemeinschaftsraum schieben lassen für gemeinsame Aktivitäten wie Brettspiele oder Fernsehen. Die 88 Tage beinhalten eine zweiwöchige Rehabilitation nach der Bettphase. Mit Unterstützung von Physiotherapeuten und Trainern bilden sich alle körperlichen Auswirkungen der Bettruhe wieder zurück.

„Das DLR führt schon seit den 1980er Jahren Bettruhestudien durch. Wir wissen, dass das Mitmachen keine Kleinigkeit ist, sondern eine echte Herausforderung“, sagt Edwin Mulder. „Unsere Teilnehmenden, die wir terrestrische Astronautinnen und Astronauten nennen, wachsen in den drei Monaten zu einer Gemeinschaft zusammen. Und die meisten empfinden es als etwas Besonderes, an einer Studie teilzunehmen, die wichtig für den Erfolg von zukünftigen Raumfahrtmissionen ist.“

Video: Mit Bettruhestudien Weltraum-Krankheiten auf der Spur
Längere Aufenthalte im All sind eine enorme Belastung für den menschlichen Körper: Muskeln und Knochen bauen ab und die Körperflüssigkeiten verschieben sich mangels Schwerkraft von den Beinen in Richtung Kopf. Aus der Flüssigkeitsverschiebung folgt eine ganze Reihe medizinischer Probleme. Um Gegenmaßnahmen entwickeln zu können, müssen die Forschenden die komplexen physiologischen Veränderungen unter Weltraumbedingungen besser verstehen. Seit Jahrzehnten ist es eine bewährte Forschungsmethode, dass sich Probandinnen und Probanden dafür ins Bett legen – in Kopftieflage. Die Bettruhestudien finden im :envihab statt, dem Forschungslabor des DLR-Instituts für Luft- und Raumfahrtmedizin in Köln. Credit:© DLR. Alle Rechte vorbehalten

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Bettruhestudien im DLR – Forschung für Menschen im All und auf der Erde

Bettruhestudien sind in der weltraummedizinischen Forschung ein Standard, um die Wirkung von Schwerelosigkeit auf den Körper auf der Erde zu simulieren. Die Effekte, die bei Probanden in Langzeit-Bettruhestudien auftreten, sind vergleichbar mit den Effekten im Weltraum. Je nach Forschungsfrage hat es sogar Vorteile, Aspekte zunächst auf der Erde zu simulieren. Denn auf der Erde lassen sich die Bedingungen leichter kontrollieren und Ergebnisse können viel schneller erzielt werden.

Das DLR hat in der Vergangenheit viel Erfahrung auf dem Gebiet der Kurzzeit- und Langzeit-Liegestudien gesammelt. Die erste Bettruhestudie im Jahr 1988 diente der Vorbereitung auf die D-2-Mission. Damals brachte das Spaceshuttle Columbia die beiden deutschen Astronauten Ulrich Walter und Hans Schlegel für zehn Tage in den Orbit. Mehr als drei Jahrzehnte später stehen Langzeitmissionen, zum Beispiel zum Mond oder Mars, im Mittelpunkt der Forschung.

Ohne Gravitation bauen Muskeln und Knochen stark ab, Körperflüssigkeiten verschieben sich in die obere Körperhälfte und das ganze Herz-Kreislauf-System wird weniger beansprucht und verliert an Leistungsfähigkeit. Kurz: Im Vergleich zur Degeneration auf der Erde läuft dieser Prozess im All wie im Zeitraffer ab. Die humanphysiologische Schwerelosigkeitsforschung ist deswegen nicht nur für Astronautinnen und Astronauten wichtig. Raumfahrtmedizin bedeutet genauso Gesundheitsforschung für die Menschen auf der Erde.

Kontakt

Katja Lenz

Presseredaktion
Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)
Kommunikation
Linder Höhe, 51147 Köln
Tel: +49 2203 601-5401

Dr. Edwin Mulder

Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)
Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin
Linder Höhe, 51147 Köln