Artikel aus dem DLRmagazin 176: Neue Technologien für humanitäre Hilfe

Rettung naht

Auf dem Weg ins Wasser
Bei den Testläufen des Amphibienfahrzeugs SHERP sitzen Forschende zur Überwachung im Fahrzeug, das durchgehend ferngesteuert ist.

Die weiße Fahrerkabine wirkt fast gedrungen zwischen den grobstolligen Reifen, die einem bis zur Schulter reichen. Beladen mit Lebensmitteln oder Medikamenten wälzt sich das Geländefahrzeug durch Dickicht und unbefestigtes Terrain – ohne jemanden am Steuer. Navigiert wird es aus der Ferne und es hat sein Ziel fast erreicht: Hilfesuchende, die von der Außenwelt abgeschnitten sind und dringend Versorgung benötigen. Der teilautonome SHERP-Truck hat die Betroffenen über seine Außenkameras erfasst, am gegenüberliegenden Ufer eines großen Sees. Lagecheck. Im entfernten Kontrollzentrum hat ein Teleoperator alles auf Monitoren im Blick. Er steuert das Fahrzeug an die steile Böschung, hinab in den See. Die Räder stoppen und für einen Moment treibt der bullige Offroader an der Oberfläche. Plötzlich sprudelt Wasser wie bei einem Mississippi-Dampfer – und der Hilfstransporter schwimmt los.

Team bespricht die Lage der simulierten Hochwassergebiete
Einsatzbesprechung der Schnell-Einsatz-Gruppe G.I.L.T. des Bayerischen Roten Kreuzes mit Blick auf die Lagekarte. Diese ermöglicht einen schnellen Überblick über die aktuelle Situation der (simulierten) Hochwassergebiete, aufbereitet durch die DLR-Einrichtung ZKI.

Wir sind auf dem Übungsgelände der Bundeswehr in Nordheim am Main, bei der Projektdemonstration von AHEAD (Autonomous Humanitarian Emergency Aid Devices). Dr. Armin Wedler vom DLR-Institut für Robotik und Mechatronik orchestriert dazu unterschiedliche Einheiten mit insgesamt 70 Beteiligten. Technische Komponenten und Arbeitsabläufe müssen ineinandergreifen. Schließlich sollen sie in der humanitären Hilfe und beim Katastrophenschutz zum Tragen kommen. Im Projekt AHEAD entwickelt das DLR mit Beteiligten Lösungen für fahrerlose Transportfahrzeuge, die ferngesteuert schwer zugängliche Gebiete erschließen. Ziel ist es, Einsatzkräfte dort zu unterstützen, wo sie mit konventionellen Fahrzeugen nicht weiterkommen oder dabei Leib und Leben riskieren würden. „Unsere Technologien sollen humanitäre Hilfs- und Rettungskräfte ermächtigen, sicher vor Ort zu agieren. Mit der Live-Demonstration testen wir, wie zielgerichtet undpraxistauglich unsere Entwicklungen der letzten viereinhalb Jahre sind“, sagt Projektleiter Armin Wedler.

In vielen humanitären Einsätzen treten Extremsituationen auf. Projekte wie AHEAD sind entscheidend, um humanitäre Hilfe auch in den entlegensten Gebieten sicher und effizient zu leisten.

Bernhard Kowatsch, Leiter des WFP Innovation Accelerator

Die Demonstration erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) und dem Bayerischen Roten Kreuz (BRK). Im Juni 2024 spielen die Teams jeweils ein typisches Anwendungsszenario durch: zuerst eine humanitäre Hilfslieferung von Lebensmitteln, die durch unwegsames Gelände, dichtbewachsene und überschwemmte Gebiete führt. Die Vorgaben orientieren sich an Arbeiten des WFP im Südsudan beim Kampf gegen den akuten Hunger von rund 8,3 Millionen Menschen. Das zweite Testszenario simuliert einen Rettungseinsatz, bei dem eine Verletzte vom Hochwasser eingeschlossen ist und dringend versorgt werden muss. Das BRK bringt hier seine Erfahrungen aus dem Flutereignis im Ahrtal 2021 und den im Sommer 2024 erfolgten Hochwassern in Süddeutschland ein, die mehrere Todesopfer forderten.

Aus Gefahrenzonen heraushalten und herausholen

Vorbereitung des SHERP-Fahrzeugs
Testlauf für den humanitären Einsatz: Das SHERP-Fahrzeug soll Hilfslieferungen des Welternährungsprogramms künftig ohne Fahrer an Bord ans Ziel bringen.

Die Schweißperlen tropfen nur so während des hochsommerlichen Testeinsatzes, dennoch ist höchste Konzentration gefragt. Auch das gehört zum Realitätscheck, wenn Mensch und Maschine das Labor verlassen. In künftigen Zielgebieten wie dem Südsudan herrscht etwa eine Durchschnittstemperatur von 35 Grad Celsius. In der Regenzeit kommt es in dem von Dürren geplagten Land dann regelmäßig zu Erdrutschen und großflächigen Überschwemmungen. Straßen werden unpassierbar und Hilfslieferungen noch schwieriger.

Bernhard Kowatsch, Leiter des WFP Innovation Accelerator, sagt: „In vielen humanitären Einsätzen treten Extremsituationen auf. Projekte wie AHEAD sind entscheidend, um humanitäre Hilfe auch in den entlegensten Gebieten sicher und effizient zu leisten. Die Zusammenarbeit mit dem DLR bringt uns der Fähigkeit näher, auch in diesen Extremsituationen Hilfe zu den Menschen zu bringen, die sie am dringendsten benötigen.“

Amphibienfahrzeug in Aktion
Durch seine Schwimmfähigkeit, Geländetauglichkeit und die Möglichkeit zur Fernsteuerung eignet sich der SHERP besonders für Einsätze in schwierigen und extremen Umgebungen.

Von den äußeren Bedingungen in Nordheim wenig beeindruckt ist das aufgerüstete AHEAD-Vehikel vom Typ SHERP, ein Amphibienfahrzeug, das 2012 in der Ukraine entwickelt wurde. Das WFP nutzt SHERPs für die „letzte Meile“ – die kritischen letzten fünf bis 50 Kilometer zum Zielort. Sie werden jedoch noch herkömmlich von einer Person im Fahrzeug gesteuert. Das soll sich so schnell wie möglich ändern, denn unterwegs lauern ernste Gefahren: krankheitsübertragende Insekten, Epidemien, Landminen und bewaffnete Überfälle. Hierzulande setzen sich Einsatzkräfte ebenfalls regelmäßig gefährlichen Situationen aus. Bei Hochwasser etwa kommt es zu plötzlichen Hangrutschungen und starke Strömungen lassen sogar Rettungsboote kentern. Ein teilautonomer SHERP ermächtigt die Helfenden, sicher vor Ort zu agieren. Darüber hinaus könnte er Menschen künftig auch aus Gefahrenzonen herausholen. In seinem Innenraum finden bis zu acht Personen Platz.

Für den Stresstest von AHEAD hat das BRK mehr als 20 Männer und Frauen aus der Schnell-Einsatz-Gruppe G.I.L.T. und weiteren Spezialeinheiten der Wasserwacht- und Bergwacht-Bereitschaften aktiviert.

„AHEAD hilft uns, die immer häufiger auftretenden Naturkatastrophen besser zu bewältigen. Das automatisierte Fahren gefährdet kein Fahrpersonal und wir erreichen Krisengebiete, die aufgrund weggespülter Straßen oder zerstörter Brücken unpassierbar sind. Zusätzlich liefert uns die Technik an Bord des Spezialfahrzeugs Daten, mit denen wir schnell ein digitales Lagebild erstellen und die Such- und Rettungseinsätze noch gezielter als bisher durchführen können“, sagt Uwe Kippnich, Koordinator Forschung in der Stabsstelle Sicherheit der BRK-Landesgeschäftsstelle.

Kontrollzentrum von AHEAD
Blick auf das lokale Kontrollzentrum von AHEAD und die BRK-Einsatzzentrale auf dem Bundeswehrgelände Nordheim am Main.

Erfolg im Wasser, Vorbereitung zu Land

Die Notsituationen sind zwar nur „gespielt“, aber die Spannung auf dem Truppenübungsplatz ist echt. Das AHEAD-Team hat zum ersten Mal Gelegenheit zu testen, ob ihr Fahrzeug auch im Remote-Betrieb schwimmt. Als die Ballonreifen anfangen, durch das Wasser zu pflügen, und der Routenvorgabe folgen, leuchten dutzende Augenpaare. Für Jubelschreie ist der Tag noch zu jung, aber die Forschenden wissen: Eine wichtige Hürde zur Einsatzreife ihrer Technologien ist geschafft.

3D Analyse im Zentrum
Das Team betrachtet im globalen Missionskontrollzentrum die interaktive 3D-Lagedarstellung

Damit der SHERP seine Aufgaben ohne Fahrer erfüllt, arbeiten mehrere Organisationseinheiten zusammen. „Wir haben ein Kontrollzentrum für die Gesamtmission, eine Steuerungszentrale für das teleoperierte Fahrzeug und eine Kommunikationseinheit, die den gegenseitigen Datenaustausch ermöglicht“, fasst Armin Wedler zusammen, während er den Aussichtsplatz am Seeufer verlässt und zur knapp einen Kilometer entfernten Kaserne läuft. Dort haben sich die Kolleginnen und Kollegen vom Zentrum für satellitengestützte Kriseninformation (ZKI) des DLR Earth Observation Center eingerichtet. Sie stellen bei dem Projekt das globale Missionskontrollzentrum (GMOC).

Das GMOC plant und überwacht die Remote-Truck-Mission. Um die Umgebung sowie die optimale Route zu bestimmen, holen sie alle verfügbaren Fernerkundungsdaten ein und werten diese aus: hochauflösende Satellitenbilder, Luftbilder und Drohnenaufnahmen. Die Ergebnisse gehen direkt an die Einsatzkräfte vor Ort – als Lagebilder, für klassisch ausgedruckte Karten zum Mitnehmen ins Feld sowie eingespeist in eine interaktive Web-Anwendung. Bei einem künftigen Betrieb ist das GMOC eine feste Zentrale, die Einsätze auf der ganzen Welt betreuen kann. Für die Testläufe errichtete das Team sein Hauptquartier daher weit entfernt von den anderen Einheiten, ohne Sicht auf das Geschehen.

Feinfühlige und robuste Fernsteuerung

Am letzten sicheren Einsatzort steht das lokale Missionskontrollzentrum (LMOC) in einem mobilen, knapp sieben Meter langen Container. Es ist mit der globalen Missionskontrolle verbunden und kommandiert den Hilfstransporter. Die Fernsteuerung erfolgt größtenteils automatisiert, entlang der vorgeplanten Route. Das Fahrzeug übermittelt laufend seine Position und 360-Grad-Umgebungsdaten an das LMOC. Dazu ist es mit mehreren Funkkommunikationssystemen, Wahrnehmungssensoren, Tiefenkameras sowie einem Lidar-Lasersystem ausgestattet – ähnlich wie ein Mond- oder Mars-Rover. Technologische Unterstützung kommt hier vom DLR-Spin-off Roboception. Auf dem Fahrzeugdach befindet sich außerdem ein Landeplatz für Drohnen, die zusätzlich Informationen erfliegen können. Das Team in der Kommandozentrale beobachtet alles live auf einem Monitor.

Aus der Gefahrenzone gerettet
Die Verletzte wurde im AHEAD-Amphibienfahrzeug aus der Gefahrenzone gerettet. Für die weitere Versorgung steht schon der lokale Krankentransport bereit.

Bei Bedarf greift ein Mitglied, der „Teleoperator“, ein. Er oder sie sitzt vor einer Eingabestation mit Hebeln zum Lenken und Gangwechseln, Schaltern für Funktionen wie Licht und Hupe sowie Fußpedalen zum Bremsen und Kuppeln. Die Besonderheit ist, dass der oder die Steuernde im LMOC dank Kraftrückkopplung fühlen kann, wie sich das Fahrzeug im Gelände verhält. Das Geheimnis liegt in den drehmoment-geregelten Antrieben. Wenn der Truck durch die grüne Wildnis des Testgeländes rumpelt, spürt die Person die Unebenheiten über den mechanischen Widerstand in den Lenkhebeln. Die feinfühlige Telerobotik-Technologie stammt aus der Raumfahrt. Im AHEAD-Projekt wird sie zusammen mit der DLR-Ausgründung Sensodrive für die humanitäre Hilfe und Kriseneinsätze auf der Erde weiterentwickelt.

Teleoperation des SHERP
Über diese Station wird der SHERP ferngesteuert.

Bricht die Verbindung zwischen dem SHERP und seinem Teleoperator ab, stoppt die Fahrt automatisch – ein Sicherheitsfeature der teilautonomen Fernsteuerung. Damit das gar nicht erst passiert und der Datenfluss zwischen allen Einheiten gewährleistet ist, sind der Hilfstransporter und die beiden Kontrollzentren über mehrere Kommunikationssysteme miteinander verbunden. Mobilfunk, Satellitenkommunikation und Breitband-Internet sind die gängigsten Kanäle. Zusätzlich sind LMOC und Gefährt per lokalem Funk verbunden. Hier zeigt das DLR-Institut für Kommunikation und Navigation seine Expertise. In den Anwendungsszenarien des WFP und BRK berechneten die Forschenden für die Routenplanung, wo Kommunikation in ausreichender Qualität verfügbar ist. Zusätzlich arbeiten sie an einem einfachen Vorhersagemodell für die Funkverbindung im Einsatzgebiet. Während der Live-Demonstration stellen sie sicher, dass die Funkverbindung zum Fahrzeug robust ist und nicht abreißt.

Technologietransfers für Hilfstransporte

Mit Sensodrive und Roboception arbeiten in dem Projekt zwei DLR-Ausgründungen mit ihrem Mutterinstitut zusammen, dem Institut für Robotik und Mechatronik in Oberpfaffenhofen. Sie haben sich auf dem Markt im Bereich Telerobotik beziehungsweise Wahrnehmung erfolgreich etabliert. Neben ihrem technischen Know-how bringen sie wertvolle Erfahrungen hinsichtlich der Frage ein, wie Innovationstransfers aus der Forschung in die Wirtschaft gelingen. Das Team rund um Armin Wedler arbeitet mit aller Kraft daran, die AHEAD-Technologien und Konzepte dem WFP, dem BRK und zahlreichen anderen Akteuren so bald wie möglich zur Verfügung zu stellen. Wenn die Machbarkeit bewiesen ist, geht es an das Feintuning – Fähigkeiten ausbauen und noch effizienter werden.

Inzwischen hat der schwimmende Transporter das andere Ufer erreicht. Er nimmt Anlauf aus dem See und erklimmt die letzten Meter, hinauf zu den Hilfesuchenden. Diese öffnen die Heckklappe des tropfenden Fahrzeugs und laden die Säcke mit Grundnahrungsmitteln aus. Beim Hochwasserszenario wartet eine Verletzte. Daher kämpfen sich Rettungskräfte zusätzlich über den Wasserweg zum Einsatzort. Sie versorgen die junge Frau, tragen sie in den SHERP und steigen begleitend ein. Grünes Licht aus den Kontrollzentren für die Rückfahrt. Mit seiner neuen „Fracht“ sprudelt und wälzt sich der Hilfstransporter durch Wasser und Dickicht sicher an seinen Ausgangsort zurück. Mission erfolgreich abgeschlossen, Machbarkeit demonstriert. AHEAD ist bereit für die nächsten Schritte.

Amphibienfahrzeug im Einsatz
Der SHERP durchquert das Flutgebiet, um Hilfe zu leisten. Die Verbindung zum Kontrollzentrum ermöglicht eine genaue Steuerung aus der Ferne

Das Projekt AHEAD

Das Projekt AHEAD wird vom DLR-Institut für Robotik und Mechatronik geleitet – in Kooperation mit dem DLR-Institut für Kommunikation und Navigation, dem Zentrum für satellitengestützte Kriseninformation (ZKI) im Earth Observation Center des DLR, dem DLR-Institut für Verkehrssystemtechnik, dem WFP Innovation Accelerator des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP), Roboception GmbH, Sensodrive GmbH, Blickfeld GmbH und dem Projektträger VDI/VDE Innovation + Technik GmbH.

Zu AHEAD gehören außerdem die Partnerprojekte KI4HE, MaiSHU, MUSERO, iFOODis und RESITEK, unter anderem mit einer Förderung des Bayerischen Staatsministeriums für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie.

Ein Beitrag von Bernadette Jung aus dem DLRmagazin 176

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