„Shrink it and pink it“ ist nicht genug
Wussten Sie, dass Frauen in einem vergleichbaren Verkehrsunfall eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit haben, verletzt zu werden, als Männer? Oder dass sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln länderübergreifend unzufriedener sind als ihre männlichen Mitreisenden? In der wissenschaftlichen Literatur belegte Beobachtungen wie diese waren es, die die DLR-Forscherinnen Dr. Laura Gebhardt und Sophie Nägele vom Institut für Verkehrsforschung sowie Mascha Brost vom Institut für Fahrzeugkonzepte veranlasst haben, genauer hinzuschauen.
Fehlende Gleichstellung von Männern und Frauen, allgemein als Gender Gap bezeichnet, begegnet uns im Alltag an vielen Stellen. Die bekannteste dieser Lücken ist wohl das Gender Pay Gap, die inzwischen statistisch gut belegte Beobachtung, dass Frauen in vergleichbaren beruflichen Positionen im Schnitt nach wie vor weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen. Dank wissenschaftlicher Untersuchungen und Beobachtungen können solche Lücken festgestellt und gemessen werden. In ihrer Studie „Please Mind the Gap“ zeigen die DLR-Forscherinnen Dr. Laura Gebhardt, Sophie Nägele und Mascha Brost, dass es eine solche geschlechterspezifische Lücke auch in Hinblick auf die Gestaltung von Verkehrsmitteln gibt.
Unterschiedliche Aufgaben, unterschiedliche Bedürfnisse
Ein Großteil der Männer arbeitet in Vollzeit und fährt morgens zur Arbeit und abends wieder nach Hause. Frauen dagegen, die statistisch häufiger in Teilzeit arbeiten und mehr Sorgearbeit leisten, haben durch die Kombination aus Lohn- und Sorgearbeit kleinteiligere und komplexere Wegeketten. Aus den verschiedenen Rollen resultieren unterschiedliche Anforderungen an die genutzten Verkehrsmittel. Wenn in Bussen und Bahnen weder Platz für Kinderwagen und Rollstühle noch ausreichend Stauraum für Taschen und Gepäck vorhanden ist, sind es in erster Linie die weiblichen Fahrgäste, für die das Konsequenzen hat: Fehlen solche Elemente, wird die Nutzung dieser Verkehrsmittel erschwert oder sogar verhindert.
„Aus Daten und Studien wissen wir, dass der öffentliche Verkehr häufiger von Frauen genutzt wird. Auch steht Frauen im Vergleich zu Männern seltener ein Auto zur Verfügung und sie sind eher bereit, auf Autofahren zu verzichten“, sagt Gebhardt. „Um diese Hauptnutzungsgruppe zu adressieren, gilt es, die Bedürfnisse und Anforderungen von Frauen bei der Gestaltung von Mobilitätsangeboten zu berücksichtigen. Dabei reicht es nicht, ihnen mit dem Motto ‚shrink it and pink it‘ – verkleinere es und male es rosa an – zu begegnen.“
Vergleichbare Untersuchungen im Bereich der Softwaregestaltung zeigen, dass sich die Benutzbarkeit für alle verbessert, wenn die Bedürfnisse von Frauen berücksichtigt werden. Sophie Nägele: „Es ist naheliegend, dass dies auch für die Gestaltung von Verkehrsmitteln gilt.“ Der Effekt ist offensichtlich: Was das Einsteigen für Frauen mit Kinderwagen erleichtert, hilft allen Personen dabei, einen Bus einfacher betreten zu können, und in gut ausgeleuchteten Unterführungen fühlen sich alle sicherer.
Sicher für alle?
Rückhaltesysteme wie Airbags werden in Europa fast ausschließlich mit einem Crashtest-Dummy getestet, der der männlichen Physiognomie entspricht. Die Systeme werden also daraufhin geprüft, wie sie im Falle eines Unfalls einen männlichen Insassen schützen. In Anbetracht der körperlichen Unterschiede, etwa im Hinblick auf die Muskel- und Fettverteilung bei Männern und Frauen, ein nicht zu unterschätzendes Sicherheitsrisiko – für Frauen!
Auch im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) gibt es Optimierungspotenzial, beispielsweise hinsichtlich der Sicherheit bei Unfällen und abrupten Fahrmanövern. Eine Richtlinie des Europäischen Rats sieht vor, dass in Fahrzeugen, die mehr als neun Personen befördern, Halteoptionen im Bereich zwischen 80 und 190 Zentimetern angebracht sein müssen. Eine durchschnittliche deutsche Frau ist 1,65 Meter groß und kann Haltegriffe in 1,90 Meter Höhe nicht gut erreichen. Deswegen stabilisieren sich viele Frauen mit niedrigeren Festhaltemöglichkeiten, zum Beispiel Sitzlehnen oder anderen niedrigeren Objekten, die ursprünglich nicht als Festhaltemöglichkeit verbaut wurden. Dadurch stehen sie im Schnitt weniger stabil. Ihr Verletzungsrisiko bei Brems- oder Beschleunigungsmanövern steigt.
Nicht berücksichtigte Geschlechterunterschiede können mitunter sogar zu einem geplant ungesunden Verhalten führen. In einer Studie aus dem Jahr 2011 gaben 41 Prozent der befragten Frauen an, dass sie – auch wenn sie Durst haben – auf ihren Bahnreisen das Trinken vermeiden oder vermindern. Sie wollten damit verhindern, die zur Verfügung stehenden öffentlichen Toiletten aufsuchen zu müssen. Der Grund: mangelhafte hygienische Zustände.
Die nächsten Schritte: von der Beobachtung zum Handeln
„Ich wünsche mir, dass möglichst viele Menschen beim Lesen unserer Studie die Aha-Momente haben werden, die wir auch hatten“, sagt Laura Gebhardt. Verkehrsmittel und -infrastruktur seien aktuell vornehmlich von und für Männer geplant und umgesetzt, so Gebhardt weiter. Das führe dazu, dass die Anforderungen von Frauen in Bezug auf ihre Sicherheit, Funktionalität und auch sanitären Bedarfe in der Planung und tatsächlichen Gestaltung von Verkehrsmitteln und -systemen nicht hinreichend berücksichtigt werden. Die von Gebhardt, Nägele und Brost aufgesetzte Studie richte sich deswegen als Impuls besonders an die Politik sowie an diejenigen, die sich mit dem Design von Verkehrsmitteln beschäftigen.
Wir brauchen mehr geschlechterspezifische Datenerhebungen, die blinde Flecken sichtbar machen
„Wir reden schließlich von einer Gruppe, die die Hälfte der Bevölkerung ausmacht, nicht von einer kleinen Minderheit“, sagt Brost. Gebhardts Wunsch für die Zukunft: „Wir brauchen mehr geschlechterspezifische Datenerhebungen, die solche blinden Flecken sichtbar machen. Auf dieser Wissensbasis kann und sollte aufgebaut werden, um die fehlende Gleichstellung aufzulösen.“
Dr. Laura Gebhardt ist Geografin und Soziologin. Sie leitet die Forschungsgruppe Bedarfsorientierte Gestaltung von Verkehrsmitteln am DLR-Institut für Verkehrsforschung. Zu den Schwerpunkten ihrer Forschung gehören die Untersuchung von Mobilitätsanforderungen unterschiedlicher Personengruppen sowie die Ableitung von Gestaltungsimplikationen für Verkehrsmittel.
Sophie Nägele ist Psychologin und ihr Forschungsschwerpunkt liegt bei den Anforderungen unterschiedlicher Nutzungsgruppen an die Gestaltung von Verkehrsmitteln. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am DLR-Institut für Verkehrsforschung.
Mascha Brost ist Ingenieurin. Ein Schwerpunkt ihrer Forschung liegt auf der Konzeption von Fahrzeugen für eine nachhaltigere Mobilität. Sie ist Gruppenleiterin der Gruppe Straßenfahrzeuge und Digitale Systeme am DLR-Institut für Fahrzeugkonzepte.
Ein Beitrag von Stefanie Huland aus dem DLRmagazin 175