6. Mai 2021

Die Suche nach atmosphärischer Turbulenz mit künstlicher Intelligenz

Künstliche Intelligenz hilft bei der Erkennung von Schwerewellen in der Atmosphäre. Diese brechen ähnlich wie Wellen an einem Strand und geben dabei Energie an die Atmosphäre ab. Um diesen Einfluss zu quantifizieren, analysiert das EOC Aufnahmen hochauflösender Infrarotkameras. KI-Verfahren helfen, aus den abertausenden Bildern pro Nacht, solche mit Turbulenzen zu finden.

Schwerewellen entstehen durch Schwingungen oder Auslenkungen der Luftsäule, z.B. wenn Luftpakete über Gebirgszügen zum Aufstieg gezwungen werden. Dieser Impuls überträgt sich bis in die sogenannte UMLT (obere Mesosphäre / untere Thermosphäre). Dort brechen die atmosphärischen Schwerewellen besonders häufig und geben dabei die transportierte Wellenenergie an die Umgebung ab. Das Ergebnis: Die Atmosphäre wird an diesen Stellen aufgeheizt – und das in beträchtlichem Maße mit Folgen für das globale Wettergeschehen. Das Verhalten der Schwerewellen steht in direktem Zusammenhang mit den Temperatur- und Druckverhältnissen unserer Troposphäre. Die Entschlüsselung der Wirkmechanismen kann daher entscheidend zum Verständnis unseres Klimas und des Klimawandels beitragen.

Wird eine Welle instabil und bricht, so geschieht dies im Zuge von Turbulenz. Dieses aus unruhigen Flugreisen bekannte Phänomen beschreibt ein ungeordnetes, scheinbar chaotisch wirkendes Strömungsverhalten der Luft. Charakteristisch für turbulente Strömungen ist die Ausbildung von Verwirbelungen, besonders gut sichtbar etwa in den Rauchschwaden einer Zigarette. Diese Wirbel treten auch im Falle brechender Schwerewellen in der UMLT auf und können mit dem hochauflösenden Fast Airglow Imager (FAIM) 3 gemessen werden. Dabei handelt es sich um eine Infrarotkamera, mit der die luftleuchtende Schicht des OH*-Airglow in ca. 87 km Höhe vom Boden aus beobachtet werden kann. In der OH*-Schicht sind die Bewegungen der Luft in dieser Höhe sichtbar. Ein Beispiel atmosphärischer Turbulenz ist in den FAIM 3 – Aufnahmen in der Nacht 29. - 30. Dezember 2019 (Video 1) zu sehen: Vor dem Hintergrund des nächtlichen Sternenhimmels (weiße Punkte) rotiert in der oberen Bildecke deutlich sichtbar eine wirbelnde Struktur.

Turbulenzen KI 2021 - Video 1
Turbulente Verwirbelung in FAIM 3-Messungen der Nacht 29. - 30. Dezember 2019. Sichtfeldgröße ca. 14 x 13 km.

Die Rotation turbulenter Wirbel gibt Aufschluss darüber, welcher Energiebetrag an die Umgebung abgegeben wird. Liest man den Radius und die Rotationsgeschwindigkeit aus den Bildern ab, so kann abgeschätzt werden, wie stark sich die Atmosphäre durch das Brechen einer Schwerewelle aufheizt. Die Analyse mehrerer mit FAIM 3 beobachteter Turbulenzepisoden legt nahe, dass dies bereits mehrere Kelvin innerhalb weniger Minuten sein können. Derselbe Heizungseffekt wird durch die in der Atmosphäre präsenten chemischen Prozesse erst innerhalb eines ganzen Tages erreicht! Ein deutliches Zeichen also, dass die dynamische Heizung durch brechende Schwerewellen in der UMLT ernst zu nehmen und durch kontinuierliche Messungen erfasst werden muss.

Eine große Herausforderung hierbei ist der Aspekt ‚big data‘. Jede Nacht werden mit FAIM 3 automatisch alle 2,8 Sekunden Bilder der OH*-Schicht aufgenommen. Es ist bereits eine mühsame und langwierige Aufgabe, in den FAIM 3 – Messungen weniger Monate nach Turbulenzereignissen zu suchen. Wie kann dann die Sichtung einer stetig wachsenden Datenmenge bewerkstelligt werden, wenn noch weitere Instrumente in Betrieb genommen werden? Durch die diffusen Wirbelstrukturen stoßen klassische Mustererkennungsverfahren hier an ihre Grenzen.

Daher wurde nun ein Klassifikationsverfahren entwickelt, das nach einem etablierten Ansatz der künstlichen Intelligenz auf neuronalen Netzwerken beruht. Ziel ist, die Datenbasis zunächst stark zu verkleinern, in der nach Turbulenz gesucht werden muss. Die Bilder werden hierfür in die folgenden drei Kategorien unterteilt:

  • „Clouds“: Bilder, in denen die OH*-Schicht ganz oder teilweise von Wolken verdeckt ist. Diese Bilder sind für die Analyse nicht zu gebrauchen.
  • „Dynamics“: Wolkenfreie Bilder, in denen in der OH*-Schicht starke Bewegungen zu sehen sind.
  • „Calm“: Wolkenfreie Bilder einer ruhigen OH*-Schicht.

Dabei fallen Bilder, in denen Turbulenz zu erkennen ist, in die Kategorie „Dynamics“.

Für die automatische Klassifikation kommt ein sogenanntes Temporal Convolutional Network (TCN) zum Einsatz, wobei hier insbesondere auch der zeitliche Verlauf der verschiedenen Bildparameter mit einbezogen wird. Dies ist entscheidend, da die Unterscheidung der Kategorien anhand eines Einzelbildes nicht immer möglich ist. Oft wird erst bei Betrachtung mehrerer Bilder als Videosequenz klar, welche Bewegungskategorie vorliegt.

Das TCN erhält als Input nun verschiedene Bildparameter, von denen zu erwarten ist, dass sie für die Unterscheidung der drei Kategorien hilfreich sein könnten. Dies sind direkte Informationen des Bildes, wie etwa der Mittelwert aller Pixel, aber auch Parameter, die das zweidimensionale Fourierspektrum oder die Texturen des Bildes beschreiben. Damit das TCN das richtige Erkennen der Kategorien lernen kann, wird ein sogenannter Trainingsdatensatz vorgegeben, der durch die manuelle Sichtung der Bilderserien – sozusagen „per Hand“ – klassifiziert wurde.

Nach dem Training soll das TCN in der Lage sein, Bilder automatisch zu klassifizieren. Ein Beispiel ist in Video 2 anhand kurzer Episoden aus der Nacht vom 4. auf den 5. August 2019 zu sehen. Die jeweilige händische Zuordnung ist in der oberen Tabelle „Klassifikation“ durch die Ziffer 1 gekennzeichnet. In der unteren Tabelle „Vorhersage“ ist die automatische Zuordnung durch das TCN anhand von Wahrscheinlichkeiten dargestellt. Bereits am Anfang der Videosequenz wird deutlich, wie gut die automatische Erkennung funktioniert: Im Video sind zunächst starke Bewegungen der OH*-Schicht zu sehen – ein typischer Vertreter der „Dynamics“-Kategorie. Ab 19:44 Uhr ziehen sehr schwache Wolkenschleier durch das Bild, die bei der manuellen Sichtung des Videos vernachlässigt wurden: Die Ziffer 1 steht in der oberen Tabelle immer noch auf „Dynamics“. Trotz der in diesem Falle zu groben händischen Klassifikation erkennt das TCN jedoch die schwachen Wolkensignaturen und steigert rapide den Vorhersagewert für „Clouds“ auf über 0,9. Auch die Wechsel zwischen den Kategorien „calm“ und „clouds“ nach Mitternacht werden vom TCN sehr gut erkannt. Übrigens ist ab 20:14 Uhr im korrekt als „Dynamics“ klassifizierten Videoabschnitt die Ausbildung eines Wirbels zu erkennen.

Turbulenzen KI 2021 - Video 2
FAIM 3-Messungen der Nacht 4. – 5. August 2019 mit manueller und automatischer Klassifikation (Andreas Welscher). Beschreibung siehe Text. Sichtfeldgröße ca. 14 x 13 km.

Dank der automatischen Klassifikation durch das TCN ist es nun möglich, die enorme Datenmenge, in der nach Turbulenz gesucht werden muss, bereits vorab um ca. 70 % zu verkleinern. Als nächster Schritt soll nun ein weiteres neuronales Netzwerk dafür optimiert werden, in den verbleibenden 30 % der Daten automatisch turbulente Wirbel zu entdecken.