Risiken einschätzen für den Katastrophenfall
Experten und Expertinnen aus Deutschland, Chile, Ecuador und Peru haben in einer internationalen Forschungskooperation unter Leitung des Earth Observation Center (EOC) des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) einen Demonstrator für ein Multi-Risiko-Informationssystem entwickelt. Mit diesem lassen sich kaskadierende Effekte und Wechselwirkungen von Naturgefahren in komplexen Katastrophenereignissen simulieren und darstellen. Durch die neuen Erkenntnisse können Risiken verringert oder ganz vermieden und die Bevölkerung auf drohende Gefahren vorbereitet werden.
Die Notwendigkeit, komplexe Risiken besser zu verstehen
Eine Gefahr kommt selten allein. So kann ein Sturm nicht nur Häuser abdecken, Bäume umknicken oder Straßen unpassierbar machen. Oft ist der Sturm von Starkregen begleitet, der Hangrutschungen verursachen kann, die ihrerseits Gebäude verschütten, oder der Niederschlag führt zu Hochwasser und Flutwellen in Bächen und Flüssen. Die Wassermassen können außerdem die Stromversorgung beeinträchtigen oder technische Störungen und Ausfälle z.B. in Industrieanlagen bewirken. Solche Schadenskaskaden lassen Katastrophen eskalieren. Auf derartige Multi-Risiko-Situationen ist unsere sozial, technisch und wirtschaftlich hoch vernetzte Gesellschaft nicht ausreichend vorbereitet. Die wachsende Urbanisierung und Folgen des Klimawandels verschärfen das Problem.
In der sechsjährigen internationalen Forschungskooperation „RIESGOS“ arbeiteten deshalb Experten und Expertinnen verschiedener Disziplinen aus Wissenschaft und Praxis zusammen, um die Katastrophenvorsorge besser auf solch komplexe Situationen vorzubereiten. Hierzu wurde unter Einbeziehung von Nutzern ein Demonstrator für ein webbasiertes Multi-Risiko-Informationssystem entwickelt. Dieser dient dazu, Wechselwirkungen von Naturgefahren sowie kaskadierende Effekte und deren Auswirkungen zu simulieren und darzustellen. Der Demonstrator kann in Ergänzung zu bereits etablierten Informationssystemen eingesetzt werden. Damit werden Behörden in die Lage versetzt, ihre Katastrophenvorsorge zu verbessern und beispielsweise die Landnutzungsplanung an Risikoszenarien anzupassen.
Forschung und Entwicklung für die Praxis
Drei besonders durch Naturgefahren bedrohte Regionen dienten dem Projekt als Pilotgebiete. Die erdbeben- und tsunamigefährdeten Küstengebiete von Valparaíso in Chile sowie Perus Hauptstadt Lima und die von Vulkanismus und Hangrutschungen bedrohte Region um den Vulkan Cotopaxi in Ecuador. Die Erfahrungen der südamerikanischen Zivil- und Katastrophenschutzbehörden, Ministerien und Hilfsorganisationen waren zentral für die bedarfs- und praxisorientierte Ausrichtung der Arbeiten. Forschung, Entwicklung und Anwendung wurden so eng verzahnt. Der entwickelte Demonstrator profitiert unter anderem von neuen Forschungsansätzen zur Multi-Risiko-Analyse und erlaubt z.B. kumulierte Schäden durch kaskadierende Ereignisse zu berechnen.
In Workshops und praktischen Übungen wurde das entwickelte System in allen Entwicklungsphasen von den potenziellen Anwendergruppen auf seine Praxistauglichkeit getestet und noch zu entwickelnde Komponenten identifiziert. Mit dem Demonstrator können Verlauf und Wechselwirkungen verschiedener Naturgefahren d dargestellt und analysiert werden. Die Auswirkungen auf kritische Infrastrukturen wie beispielsweise Stromnetze werden hier ebenfalls dargestellt. Verschiedenen Multi-Risiko-Situationen können ausgewählt und deren zeitliche Entwicklung analysiert werden: "Welche Schäden würde das simulierte Erdbeben an Gebäuden anrichten? Wie ändert sich das Schadensbild, wenn dem Beben ein Tsunami folgt?". Dafür kann der Nutzer entweder mit vordefinierten Parametern arbeiten oder sein Gefährdungs-Modell selber „konfigurieren“. Um die Auswirkungen von zwei verschiedenen Szenarien, zum Beispiel zweier Erdbeben unterschiedlicher Magnitude, zu vergleichen, steht dem Nutzer ein Split-Screen-Modus zur Verfügung.
Die einzelnen Systemkomponenten wurden als Open-Source-Software veröffentlicht und können jederzeit von Dritten weiterentwickelt und in beliebige operationelle Systeme integriert werden. Neben der Risikovermeidung und Vorsorgeplanung eignen sich die Entwicklungen u.a. für Anwendungen im Katastrophenmanagement oder für die Risikokommunikation.
Lernerfahrungen und Empfehlungen
Die wichtigsten Projekterkenntnisse wurden in einem von allen Partnern gemeinsam getragenen „Policy Brief“ festgehalten, der sich an Entscheider richtet, die im Kontext des Katastrophenrisikomanagements (KRM) und der damit verbundenen Forschung arbeiten. Dieser thematisiert die Herausforderungen von Multi-Risiko-Analysen sowie die Möglichkeiten und Grenzen technologischer Entwicklungen speziell im Spannungsfeld zwischen Forschung und Praxis. Darüber hinaus gibt der „Policy Brief“ Handlungsempfehlungen für das Katastrophenrisikomanagement in komplexen Multi-Risiko-Situationen.
Der „Policy Brief“ ist unter folgender DOI im Internet verfügbar: https://doi.org/10.15489/cwgicmtcja61
Das Management multipler Katastrophenrisiken bleibt auch künftig eine wichtige Aufgabe. Die Wissenschaft kann hierfür das erforderliche Wissen bereitstellen. Wissenschaftliche Modelle finden über Informationssysteme praktische Anwendung. Durch die Einbindung von Nutzern in den technischen Entwicklungsprozess können die Voraussetzungen geschaffen werden, dass neueste Erkenntnisse gezielt Eingang in Planungs- und Entscheidungsprozesse auf lokaler und regionaler Ebene finden.
Über das Projekt
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) förderte die Projekte RIESGOS (03G0876A-J) und RIESGOS 2.0 (03G0905A-H) im Rahmen der Strategie "Forschung für Nachhaltigkeit" (FONA) unter der Fördermaßnahme "CLIENT II - Internationale Partnerschaften für nachhaltige Innovationen".
Der Projektträger Jülich betreute die Projekte im Auftrag des Bundesforschungsministeriums fachlich und administrativ.
Das deutsche Projektkonsortium setzte sich aus folgenden Forschungseinrichtungen und Industriepartnern zusammen: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, Helmholtz-Zentrum Potsdam Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ, Alfred-Wegener-Institut Helmholtz Zentrum für Polar- und Meeresforschung, Technische Universität München, 52°North GmbH, geomer GmbH, DIALOGIK gemeinnützige GmbH, SLU, plan+risk consult – Dr. Prof. Greiving & Partner and EOMAP GmbH & Co. KG.
Die deutschen Auslandshandelskammern (AHK) in Chile, Ecuador und Peru unterstützten die KMUs, die u.a. das wirtschaftliche Potenzial der getätigten Entwicklungen untersuchten. Das Team kooperierte über die Projektlaufzeit mit einer Vielzahl von Forschungsinstitutionen und Behörden in den südamerikanischen Partnerländern Chile, Ecuador und Peru.
GIZ, UNOOSA / UN-SPIDER, UNESCO und MunichRE begleiteten die Projekte als assoziierte Partner.
Beiträge zur globalen Nachhaltigkeitsagenda
RIESGOS trägt zur Erreichung mehrerer Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) bei, wie zum Beispiel SDG 1 „Armut in allen ihren Formen und überall beenden“, SDG 11 „Nachhaltige Städte und Gemeinden“ und SDG 13 „Maßnahmen zum Klimaschutz“. Das Demonstrator-System soll Planern und Katastrophenschützern helfen, sich im Vorfeld mit komplexen Katastrophensituationen auseinanderzusetzen, um für den Ernstfall besser darauf vorbereitet zu sein.