Das Zentrale Archiv des DLR
Geschichte bewahren, Geschichte(n) erzählen, Brücken bauen – im Zentralarchiv des DLR werden Vergangenes, Gegenwärtiges und Ideen mit Zukunft aufgehoben.
Arche des Lebens, Archiv für die Erde
Das Wort ist alt, modern, zeitlos: Arche (ἀρχή). Antike Philosophen bezeichneten so den Urgrund. Die Bibel nennt Noahs „großen Kasten“ Arche. In ihr wurden die Arten gerettet. Zur Charakterisierung zeitgenössischer Schutzräume für Kulturgüter wird auf das archaische Wort zurückgegriffen: bei der Voyager-Mission, bei der Arche Nebra, die es im Namen trägt. Der Barbarastollen in Oberried ist mit „Zentraler Bergungsort der Bundesrepublik“ nüchtern benannt, wird aber regelmäßig als Arche bezeichnet. International gilt der „Globalt sikkerhetshvelv for frø på Svalbard“ auf Spitzbergen als größter Saatgutspeicher weltweit: eine Arche des Lebens, Archiv für die Erde.
100 Jahre Wissen für morgen
Manchmal muss man 100 Jahre alt werden, um so jung zu sein, dass einen das Alte interessiert. Für eine Institution wie das DLR, die es auf ihren Schild gehoben hat, „Wissen für morgen“ zu erkennen, ist 100 ja kein Alter. „Morgen“ ist für die Forschung täglicher Auftrag. Linus Pauling nannte das lakonisch: „Wissenschaft ist Irrtum – auf den letzten Stand gebracht.“ 2007 beging das DLR seinen 100. im Ursprungsort, Göttingen, mit einem Festakt. Aus diesem Anlass nahm die Idee Gestalt an, in dieser Stadt der Wissenschaften, die 45 Nobelpreisträger hervorgebracht hat, das Zentrale Archiv des DLR einzurichten. Zwei Jahre später war die Leitungsstelle zu besetzen. Jessika Wichner steht zu dieser Zeit unmittelbar vor ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Promotion. Sie hat sich beworben und ist auf dem Weg nach Schottland, eine ihrer Wahlheimaten, als ein Anruf sie erreicht. Wichner erhält nicht nur die Stelle, sie soll das Archiv mit aufbauen.
Für so eine Aufgabe scheint sie prädestiniert zu sein: Die Tochter eines Fluglehrers ist nahe Göttingen mit Flugzeugen und mit Luftfahrt groß geworden. Sie hat ein Grundinteresse an Luft- und Raumfahrt zu Hause mitbekommen – und sie kennt das DLR. Thema ihrer Promotionsarbeit: „Der Traum vom Fliegen von der Antike bis zu den Ballonaufstiegen im Großbritannien Ende des 18. Jahrhunderts“. Sie sei überrascht gewesen, dass es auf diesem Forschungsfeld „so gut wie nichts“ gab, sagt sie im Gespräch mit dem DLRmagazin. Nicht zuletzt das Interdisziplinäre dieses Themas habe sie angesprochen: In ihrer Arbeit trifft sich die Luftfahrt mit Geschichte, Anglistik und Literaturwissenschaft.
Gelassenheit und Kreativität
Nach dem Anruf änderte sich für sie vieles. „Das war schon toll, zu erfahren, demnächst im DLR und an so etwas zu arbeiten“, erinnert sie sich. Diese Freude spürt man auch heute. Dr. Jessika Wichner kommt für diese Aufgabe aber nicht nur die im DLR angelegte interdisziplinäre Arbeitsweise entgegen. Als Rollkunstläuferin hat sie seit früher Jugend Konzentrationsfähigkeit und Fokussierung auf Wesentliches gelernt. „Dank des Leistungssports habe ich eine gewisse Gelassenheit“, sagt sie, denn „im Wettbewerb, wenn es um eine Zehntelsekunde geht, kann man nicht einfach aussteigen“. Auch ihre „gewisse Kreativität“ führt sie mit auf den Sport zurück, denn dort „muss man, wenn der eine Weg nicht geht, sofort einen anderen suchen“.
Die hohe Kunst des Weglassens …
In ihrem Büro kommen wir auf die Kernaufgaben des DLR-Archivs zu sprechen, auf den Bestand und auf das Prozedere, wie Interessenten aus dem DLR ebenso wie aus der Öffentlichkeit Zugang erhalten. Das Verhältnis von externen Anfragen zu internen beträgt ungefähr zwei Drittel zu einem Drittel. Im Bestand gibt es mehr als 50.000 Dokumente. Ein Schwerpunkt liegt auf den Jahren nach 1969. Damals wurden die Überleitungsverträge der Aerodynamischen Versuchsanstalt (AVA), der Deutschen Forschungsanstalt für Luftfahrt (DFL) und der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL) mit der Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt e. V. (DFVLR) abgeschlossen.
Erstmals ist die Rede vom heutigen DLR. Zu den wichtigen Dokumenten zählen auch Originale von Studienarbeiten Ludwig Prandtls, gewissermaßen des Gründervaters des DLR, aus dem Jahr 1897; in dieses „lebende Archiv“ wird heutzutage auch „die neueste Pressemitteilung aufgenommen“. Dr. Wichner erläutert: „Archivwürdig sind besonders Dokumente, die aussagekräftig über die Institution sind. Über das Sammlungsprofil entscheiden wir zusammen mit dem DLR-Vorstand.“ Hier seien die schwierigsten Fragen zu beantworten: „Was sammeln wir? Was ist in der Zukunft von Interesse?“ Bei der hohen Schule des Weglassens hilft ein Pflichtprogramm.
So werden besonders Vorgänge archiviert, die Rechtssicherheit gewährleisten, zum Beispiel ausgelaufene Patente der Dreißiger- und Vierzigerjahre wie auch Bauzeichnungen der DLR-Gelände. Hinzu kommt das, was regelmäßig angefragt wird – „archiviert nach bestem Wissen und Gewissen“, wie Dr. Wichner sagt. Es wird anhand einer administrativen Ebene unterschieden – bis hin zu ausgewählten Personalakten unter strikter Beachtung des Daten- sowie des Persönlichkeitsschutzes – und nach der Forschungsebene. Sperrfristen müssen beachtet werden: Es gelten die des Bundesarchivs, somit die längsten, die es in Deutschland gibt. Dokumente des DLR Raumfahrtmanagements und der DLR Projektträger gehen organisations- und historisch bedingt nicht in das Zentrale Archiv des DLR ein, sondern kommen ins Bundesarchiv. Die mehr als 50.000 Dokumente oder, wie es offiziell heißt, die Verzeichniseinheiten, existieren in Form von Akten. Darin sind beispielsweise Besprechungsprotokolle und Vorstandsbeschlüsse bewahrt, Entscheidungen des externen DLR-Senats und des Wissenschaftlich-Technischen Rats des DLR sowie aus zig Protokollen. Zum Bildmaterial zählen 15.000 historische Glasplatten, im Wesentlichen aus Göttingen und Oberpfaffenhofen, außerdem Bildmaterial der DLR-Fotomedien, die 2019 rund 700 Aktenordner mit Negativstreifen übergeben haben, und vieles andere. Dr. Wichner erläutert: „Eine zentrale Ablage muss sein: Wir wollen die Mitarbeiter entlasten. Oft findet sich in dem, was für Altpapier gehalten wird, ein Schatz. Wir arbeiten gegen die Zeit, gegen den Wissensverlust.“ Letzterer betrifft auch älteres digitales Material, dessen Haltbarkeit auf Dauer wegen des Trägermaterials ein besonderes Problem darstellt. „Der IT-Bereich denkt in anderen, kürzeren Zeithorizonten und -erwartungen, als es ein Archiv muss.“ Hier könnten Verbünde helfen, beispielsweise mit dem Bibliotheksservice-Zentrum BadenWürttemberg in Konstanz. Problematisch wird Archivierung auf einem nicht erwarteten Feld: „Wir werden eine Wissenslücke infolge zunehmenden E-Mail-Verkehrs haben, die Korrespondenz in alter Form gibt es kaum noch“, sagt Jessika Wichner. Wer die Zeit von Umlaufmappen und Papiervermerken erlebt hat, ahnt, was das bedeutet.
Von Hausbesuchen, lohnender Vergangenheit und der Dimension Zukunft
Als lebendes Archiv sind Profil und Sammlung wesentlich auf die Mitarbeit der DLR-Kolleginnen und -Kollegen angewiesen. Archivierung ist freiwillig; ein Archiv soll allerdings auch kein Papierkorb für Überflüssiges werden. „Wir müssen Überzeugungsarbeit leisten“, so die Archivleiterin, „damit uns die Kolleginnen und Kollegen wahrnehmen, an uns denken und uns auf Schutzwürdiges aufmerksam machen“. Ist das der Fall, folgt eine Dienstreise, von ihr mit trockenem Humor „unser Hausbesuch“ genannt. „Einer der Hauptanlaufpunkte der Dienstreisen ist das DLR in Oberpfaffenhofen. Dort befindet sich die Stabsstelle Wissenschaftliche Information, geleitet von Dr. Jutta Graf, der neben dem Zentralen Archiv die DLR-Bibliothek und der Forschungsdatenmanager des DLR unterstellt sind.“ Oberpfaffenhofen erweist sich bis heute als der ergiebigste DLR-Standort, was Abgaben an das Zentrale Archiv betrifft. Die vier DLR-Kolleginnen und -Kollegen im Archiv sichten Nachlässe, werden auch schon einmal in eine Garage voller Altpapier gerufen und sind oft bei Umzügen vorab mit fachlichem Rat dabei Dass die archivierte Vergangenheit nicht komplett vergangen ist, zeigt „eine ganz andere Dimension“, die in der Archivierung wissenschaftlicher und technischer Arbeiten liegen kann. Jessika Wichner berichtet anekdotisch: „Im Archiv befinden sich Dokumente des Hubschrauberforschers Professor Walter Just.“ Er gründete 1953 die Deutsche Studiengemeinschaft Hubschrauber, die 1964 in die DFL in Braunschweig eingegliedert wurde. Zu den Dokumenten zählen Abschlussarbeiten von Studenten, die für heutige Ingenieure interessant sind. In ihnen finden sich viele Ideen, die damals nicht umsetzbar waren, aber heute, mit modernen Materialien, realisiert werden können. „Ein Beispiel“, so Wichner, „dass Vermittlung von Wissensschafts- und Technikgeschichte Potenzial für die Zukunft enthalten kann.“
Brücken bauen für die Jugend
Die Zukunft gehört der Jugend. Archivarbeit bedeutet entsprechend auch, junge Menschen für diese Arbeit zu begeistern. Der „Zukunftstag“ (auch „Girls‘ Day/Zukunftstag“; in Niedersachsen auch für Jungen) bietet dazu gute Gelegenheit. „Wir schlagen Brücken“, sagt Dr. Wichner, „indem wir Kindern zeigen, wie und an welches Material wir herankommen, dessen Thematik sie aus dem Schulunterricht kennen“. Sie holt einen der „Schätze“ herbei: ein Originalschreiben des letzten deutschen Kaisers, Wilhelm II., das dieser lange nach seiner Abdankung aus dem Exil im niederländischen Doorn 1935 an den Braunschweiger Professor Heinrich Koppe richtete. Darin bedankte sich Wilhelm nicht nur für ihm überbrachte wissenschaftliche Arbeiten. Ihn hätte besonders „ein Vortrag über die praktischen Erfahrungen aus Blitzschlaegen in Flugzeuge“ interessiert. Alldem fügte er, heute würde man sagen, ein Autogramm hinzu – „als Zeichen Meines Dankes und Meiner Anerkennung“ – und zeichnete beides majestätisch: in Purpurschrift.
Im Ideennetzwerk
Dr. Jessika Wichner schreibt schlicht, mit Bleistift. Auf Graphit angesprochen sagt sie, das sei zwar Zufall, Kugelschreibertinte bleiche aber viel schneller aus. Gute Historikerinnen, die ein Archiv leiten, erkennt man vielleicht an solchen Zufällen (die dann doch irgendwie keine Zufälle sind). Eine von ihnen arbeitet „bis heute unheimlich gerne“ in zeitlosen Räumen, in denen Geschichte, Geschichten, gelebtes Leben und die Zukunft gleichzeitig und gegenwärtig sind. Jessika Wichner sagt: „Mir macht es jeden Tag Spaß, ich lerne jeden Tag hinzu. Im DLR kommen Menschen zusammen, wir entwickeln Ideen in einem Netzwerk.“ Wir alle sind willkommen im Archiv und bei seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Auch Sie.