1. Juli 2019

Intelligente Crashstrukturen für mehr Sicherheit im Straßenverkehr

  • Intelligente Crashabsorber sollen in Zukunft für mehr Sicherheit bei Zusammenstößen von Fahrzeugen sorgen.
  • Zentrale Komponenten sind sogenannte Zerspanrohre. Sie können mit weniger Material mehr Energie aus einem Crash aufnehmen.
  • Aktive Energieabsorber nutzen die Möglichkeiten der Digitalisierung, Vernetzung und Methoden der künstlichen Intelligenz.
  • Schwerpunkt(e): Verkehr, Digitalisierung, intelligente Mobilität, künstliche Intelligenz

Viele Fahrzeughersteller haben ihre Modellpalette in den letzten Jahren deutlich erweitert. Die Spanne reicht von sehr leichten Kleinstwagen bis hin zu schweren und hochmotorisierten Geländelimousinen – sogenannten SUVs (sport utility vehicles). Das Bild auf unseren Straßen wird entsprechend bunter. Gleichzeitig steigt dadurch die technologische Herausforderung, bei einem Zusammenstoß für alle Insassen eine möglichst hohe Sicherheit zu gewährleisten – vor allem wenn sehr leichte und kleine Wagen mit besonders großen und schweren kollidieren. Wissenschaftler des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) arbeiten deshalb an einem sogenannten aktiven, intelligenten Energieabsorber. "In Zukunft soll diese 'schlaue' Crashstruktur die kommende und nicht mehr vermeidbare Unfallsituation innerhalb einer Zehntelsekunde erfassen, sich entsprechend anpassen und so die Sicherheit für alle Beteiligten erhöhen", beschreibt DLR-Forscher und Projektleiter Marc Rohrer.

Ungünstige Ausgangslage: Klein und leicht trifft auf groß und schwer

Kleine und leichte Fahrzeuge haben bei Kollisionen mit großen und schweren Fahrzeugen oft das Nachsehen: Sie verfügen über eine geringere Masse und kürzere Vorderwagenstrukturen, sprich weniger "Knautschzone". Im Crashfall verformen sich die Längsträger im Vorderwagen und nehmen dabei möglichst viel Energie aus dem Zusammenstoß auf, um die Auswirkungen auf die Fahrgastzelle zu begrenzen. Stoßen zwei in Größe und Gewicht sehr unterschiedliche Fahrzeuge aufeinander, kann es beim kleineren der beiden zu heftigen Verformungen kommen. "Genau hier setzen wir mit unserer Arbeit im Bereich der aktiven Energieabsorber an. Denn auch mit immer mehr teil- oder vollautonom fahrenden Autos werden sich auf absehbare Zeit Unfälle nicht vollständig vermeiden lassen. Es wird noch länger einen Mischverkehr aus manuell gesteuerten und autonom fahrenden Autos geben", erklärt Marc Rohrer vom DLR-Institut für Fahrzeugkonzepte in Stuttgart die Hintergründe.

Vom passiven zum aktiven Energieabsorber

Die Grundidee des DLR-Energieabsorbers lässt sich wie folgt beschreiben: Ein teleskopartiges Rohr ersetzt den Längsträger im Vorderwagen. Bei einem Crash wird die Oberfläche dieses Rohrs mittels einer scharfen, ringförmigen Schneide abgetragen. Dieser Zerspanungsprozess nimmt einen Großteil der Bewegungsenergie aus dem Zusammenstoß auf. "Wir können so mit weniger Material mehr Energie absorbieren, als das bei der herkömmlichen Verformung von Längsträgern möglich ist. Man kann diesen Ansatz durchaus als Leichtbaulösung verstehen. Gleichzeitig lässt sich diese Technologie relativ einfach skalieren, also an unterschiedliche Fahrzeugmodelle anpassen", fasst Marc Rohrer die Vorteile des Ansatzes zusammen.

Mittels Digitalisierung, Vernetzung und künstlicher Intelligenz zum "schlauen" Energieabsorber

Aktive Energieabsorber entwickeln diese Technologie weiter und sollen die Möglichkeiten der Digitalisierung, Vernetzung und künstlichen Intelligenz nutzen: Mit Bilderkennung über eine optische Kamera und umfangreiche Sensorik stellt das System im Bruchteil einer Sekunde Fahrzeugtyp und Gewicht fest. Es ermittelt dann, wo dieses Fahrzeug über Strukturen verfügt, welche die Energie beim Crash am besten aushalten können, ohne sich zu verformen oder zu brechen. Denn nur so kann diese Energie durch Zerspanung umgewandelt werden. Das kann zum Beispiel der Vorderwagen im Fall eines Frontalzusammenstoßes sein oder die B-Säule bei einem seitlichen Crash.

Auf den letzten Metern – wenn eine Kollision unvermeidlich ist – greift das System in die Lenkung ein, um auf Basis dieser Informationen einen möglichst glimpflichen Verlauf des Zusammenstoßes herbeizuführen. Gleichzeitig wird die Schneide des Schälrohrs mechanisch eingestellt und die Zerspantiefe damit reguliert, dass möglichst viel Energie aufgenommen werden kann. "Ziel ist es, die Kollision so zu gestalten, dass möglichst viel Knautschzone von beiden Fahrzeugen genutzt wird. Auf diese Weise wollen wir die Verzögerungswirkung auf die Insassen und damit das Verletzungsrisiko, so gering wie möglich halten. Wichtig ist natürlich auch, dass es nicht zu Intrusionen in die Fahrgastzelle kommt", schildert DLR-Wissenschaftler Rohrer.

Selbstlernendes System mit Modelldatenbank

Im Optimalfall hat das Auto ein selbstlernendes Computersystem an Bord. Dieses scannt beim Fahren die Automodelle um sich herum, gleicht die Daten mit einer Datenbank auf einem Server ab und lernt so ständig dazu. Auf diese Weise hält das Fahrzeug seine Modelldatenbank aktuell. Falls ein Modell nicht bekannt sein sollte, ermöglicht eine grobe Erfassung der Geometrie Rückschlüsse auf die Fahrzeugmasse.

Bis dahin wird allerdings noch etwas Zeit vergehen. Aktuell arbeiten die DLR-Forscher mit einem Demonstrator, mit dessen Hilfe sie die prinzipielle Machbarkeit der Technologie bereits auf dem Prüfstand nachgewiesen haben. Ihr nächstes Etappenziel ist es, weitere Forschungsdemonstratoren zu bauen, die wesentlich kleiner und leichter sind sowie die Sensorik und Informationstechnik des Systems zu entwickeln und zu integrieren.

Kontakt

Denise Nüssle

Presseredaktion
Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)
Kommunikation
Pfaffenwaldring 38-40, 70569 Stuttgart
Tel: +49 711 6862-8086

Marc Rohrer

Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)
Institut für Fahrzeugkonzepte
Pfaffenwaldring 38-40, 70569 Stuttgart