40 Jahre DLR-Energieforschung: "Decarbonisierung hätte 1976 niemand verstanden"
Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) feiert 2016 40 Jahre Energieforschung und lässt die Protagonisten der Anfangszeit zurück blicken. Einer davon ist Prof. Dr. Carl-Jochen Winter, Wasserstoffforscher der ersten Stunde. Von 1976 bis 1992 war er Vorstand des Bereichs "Werkstoffe/Bauweisen und Energetik" bei der damaligen DFVLR. Bereits zwei Jahre nach der Etablierung des neuen Forschungsbereichs "Energetik" stellte die DFVLR 1978 Europas erstes Wasserstoffauto vor. Im Interview mit Wissenschaftsjournalist Tim Schröder erzählt Winter von den Anfängen der Wasserstofftechnologie und warum diese Zeit für die Entwickler extrem spannend war.
Prof. Dr. Carl-Jochen Winter studierte an der Technischen Universität Darmstadt Strukturdynamik und arbeitete anschließend beim Luftfahrt- und Technikkonzern Dornier und lehrte an der Universität Stuttgart als Professor für Energietechnik. Winter war bis 2012 Vize-Präsident der International Association for Hydrogen Energy (IAHE) und dort insbesondere für Europa, Afrika und den mittleren Osten zuständig.
Herr Winter, der SPIEGEL hat Sie und Ihren Mitarbeiter Joachim Nitsch 1987 in dem Artikel "Das Undenkbare denken!" als "die klügsten Anwälte, die Sonne und Wasserstoff im Lande haben" bezeichnet. Sie gelten noch heute als Vorreiter der Wasserstoffforschung in Deutschland. War 1976, als Sie zur damaligen DFVLR kamen, abzusehen, dass Wasserstoff schon wenige Jahre später als feste Größe im Energiemix der Zukunft gehandelt werden würde?
Uns war damals klar, dass die Energieversorgung der Welt völlig umgebaut werden musste. Wir hatten die Vorstellung, mithilfe der Sonne Wasserstoff in großen Mengen zu erzeugen und damit in Zukunft einen großen Teil des Energiebedarfs der Menschheit zu decken. Für uns Techniker lag das durchaus nah. Wir waren ja durch die Entwicklung von Raketenantrieben mit Wasserstoff vertraut. Wasserstoff beispielsweise ins Auto zu übertragen, war für uns nur ein kleiner Schritt. Die Industrie und die Öffentlichkeit sahen das natürlich zu großen Teilen noch ganz anders.
Das klingt so, als wäre es ein Kinderspiel gewesen, den Wasserstoff auf den Erdboden zu holen...
...natürlich nicht. Wir Entwickler waren technisch eigentlich permanent überfordert, weil wir immer wieder auf Fragestellungen stießen, für die es noch keine Antworten gab. Aber gerade das machte die Arbeit ja so faszinierend. Wir arbeiteten an ganz neuen Technologien. Übrigens mit Erfolg: 1978 baute mein Kollege Walter Peschka einen BMW zu einem Wasserstoffauto um. Der Tank füllte den ganzen Kofferraum. Betankt wurde der Wagen an einer neuentwickelten halbautomatischen Zapfsäule. Ich hatte als Vorstand besondere Verantwortung, weil ich in meinem Bereich Forschungsschwerpunkte setzen und Technologien fördern musste, deren Zukunft noch nicht wirklich abzusehen war. Der BMW zum Beispiel war ein großer Erfolg. So etwas gab es damals sonst nirgends. Man wurde weltweit auf unsere Entwicklung aufmerksam und unsere DFVLR-Gruppe über die Grenzen von Deutschland hinaus bekannt. Mit dem BMW waren wir dann auch in den USA unterwegs. Der Wagen steht heute übrigens im BMW-Museum in München.
Trotz des Erfolgs hat sich Wasserstoff bis heute nicht in großem Stil als Energieträger durchgesetzt. Wie erklären Sie sich das?
Mein Motto ist: Energy needs time! Eine Energieform braucht viele Jahrzehnte oder gar halbe Jahrhunderte, um sich zu etablieren. Die Kohle hat die Welt mehr als 200 Jahre mit Energie versorgt. Der Dieselmotor ist 120 Jahre alt. Beide könnten jetzt abgelöst werden. Doch dieser Übergang wird noch viele Jahre dauern.
Haben Sie damals erwartet, dass sich der Wasserstoff schneller durchsetzen würde?
In gewisser Weise schon. Für uns war Wasserstoff der Energieträger des 21. Jahrhunderts. Aber natürlich merkten wir auch, dass wir zu früh dran waren. Die großen Industriekonzerne betrachteten Sonne, Wind und Wasserstoff als Kleinkram. Mir sagte damals der Vorstand eines großen Elektronikkonzerns, dass für ihn schöne große Gasturbinen mit Wirkungsgraden von knapp 50 Prozent zukunftsweisend wären. Technologisch hatten wir den Wasserstoff aber schon in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren verstanden. 1987 ging in Saudi-Arabien eine Versuchsanlage in Betrieb, die wir entwickelt hatten. "Hysolar" hieß das Projekt, in dem mit Strom aus Photovoltaik Wasserstoff in einer Elektrolyse-Anlage erzeugt wurde. Die Anlage hatte eine Leistung von zehn Kilowatt (kW). Aus heutiger Sicht ist das wenig. Für uns war das damals ein großer Schritt.
Und wo steht der Wasserstoff heute?
Ich sehe einen positiven Trend. Heute hat Wasserstoff, anders als damals, keine Gegner mehr. Die Forschung, die Industrie, die Politik - alle betrachten Wasserstoff als etwas Positives und Bestandteil der künftigen Energielandschaft. Natürlich ist Wasserstoff noch längst nicht etabliert. Aber immerhin: Heute gibt es in Deutschland gut 50 Wasserstofftankstellen. Zu meiner Zeit bei der DFVLR waren es ganze drei. Hinzu kommt, dass heute das Thema Klimawandel ganz oben auf der Agenda steht - das ist für die regenerativen Energien und auch den regenerativ erzeugten Wasserstoff ein bedeutender Treiber, ein "Enabler".
Derzeit haben aber zweifellos Wind- und Sonnenstrom die Nase vorn.
Ja, in dieser Hinsicht haben wir uns die Zukunft tatsächlich ein wenig anders vorgestellt. 1986 veröffentlichten Joachim Nitsch und ich das Buch "Wasserstoff als Energieträger - Technik, Systeme, Wirtschaft", in dem wir die Energiezukunft als Wasserstoffwirtschaft beschrieben. Diese Rolle spielt der Wasserstoff heute nicht. Wir waren davon ausgegangen, dass Wasserstoff die Basis der Energiewirtschaft bildet. Heute erwartet man eher, dass Wind- und Sonnenstrom die Treiber sind. Wasserstoff wird als bedeutende Technologie betrachtet, mit der sich überschüssiger Strom aus Photovoltaik- und Windenergieanlagen speichern lässt. In diesem Zusammenhang dürfte Wasserstoff in Zukunft eine große Rolle spielen. Und angesichts der Verzögerungen bei der Einführung von Elektroautos, der Diskussion um Batterietechnologie und Reichweite arbeiten große Automobilkonzerne inzwischen wieder verstärkt an der Entwicklung von Wasserstoff-Verbrennungsmotoren. Das ökonomische Interesse ist aber im Moment noch nicht so groß, dass sich der Wasserstoff endgültig durchsetzen kann. Insgesamt betrachte ich die Geschichte des Wasserstoffs als eine langwellige positive Entwicklung.
Während Ihrer Zeit als Vorstand in der DFVLR haben Sie neben dem Wasserstoff auch die Entwicklung von Solarkraftwerken gefördert. Wie bewerten Sie diese Forschungsarbeiten heute?
Auch die Entwicklung der Solarkraftwerke war etwas ganz Neues. 1977 erhielt ein internationales Konsortium, an dem wir als DFVLR maßgeblich beteiligt waren, von der Internationalen Energie-Agentur den Auftrag, im spanischen Almeria zwei Solarkraftwerke mit einer Leistung von je 500 kW zu bauen. Die Kraftwerke sollten die technische Machbarkeit unterschiedlicher Technologien demonstrieren. Die DFVLR wurde mit der Planung, der Auftragsvergabe an die Industrie sowie Bau und Betrieb betraut. Als Vorstand der Energieforschung wurde ich zum Chef des "Executive Committee" ernannt. Die Anlagen in Almeria sind bis heute vielfach optimiert und ausgebaut worden - und damit ein sichtbarer Erfolg unserer Arbeit. Alles in allem hatte ich in der Zeit bei der DFVLR große wissenschaftliche Freiheiten. Wir konnten uns mit verschiedenen Technologien und schier unendlich vielen technischen Aspekten beschäftigen. Zusammenfassend würde ich sagen, dass wir bei Null anfangen mussten und manches erreicht haben.
Ihr Blick auf die heutige Energielandschaft ist also positiv?
Durchaus. Nur ein Beispiel: Zu meiner Zeit bei der DFVLR durften wir das Wort Decarbonisierung nicht in den Mund nehmen, weil uns niemand verstand. Ich erinnere mich an Politiker, die damals kopfschüttelnd abwinkten. Heute redet die ganze Welt davon. Beim UN-Klimagipfel in Paris im vergangenen Dezember haben sich die Regierungschefs weltweit sogar höchstoffiziell die Decarbonisierung der Weltwirtschaft zum Ziel gesetzt. Das ist für mich ein Zeichen dafür, dass wir ein gutes Stück vorangekommen sind. Natürlich wird man fossile Energie nicht von heute auf morgen ersetzen können. Die Kohle zum Beispiel ist auch ein wichtiges Sozialelement. Weltweit sind heute Millionen von Arbeitern von der Kohle abhängig. Wir wissen, wie wir das Energiesystem verändern können. Doch dazu müssen in den kommenden Jahren noch sehr viele Schritte gegangen werden. Auch hier gilt nach wie vor: Energy needs time!