Gletscher schmelzen schneller und folgenreicher als erwartet
- Westantarktis: Die Gletscher Smith, Pope und Kohler schmelzen schneller als erwartet.
- Kritischer Bereich: Freischwimmende Unterseite der Gletscher schmelzen am stärksten.
- Eismassen der Westantarktis könnten den Meeresspiegel insgesamt um bis zu 1,3 Meter ansteigen lassen.
- Schwerpunkte: Raumfahrt, Erdbeobachtung, Globaler Wandel, TanDEM-X
Der Südpol hat neue Sorgenkinder. Eine Gruppe von kleineren Gletschern schmilzt schneller als erwartet: Pope, Smith und Kohler. Bisher standen die benachbarten Eisgiganten Thwaites und Pine Island im Fokus der Forschung, da sie sehr fragil sind und den globalen Meeresspiegel um bis zu 1,2 Meter ansteigen lassen könnten. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) hat die Veränderungen in der Westantarktis gemeinsam mit internationalen Forschungspartnern aufgedeckt und analysiert. Den Ursachen für die rapiden Abschmelzungen der kleineren Gletscher kamen sie mithilfe spezieller Radardaten der Satellitenmissionen TanDEM-X und COSMO-SkyMed auf die Spur.
Die gewonnenen Erkenntnisse sind wichtig, um Gletscherprozesse besser zu verstehen und so die Entwicklung der gesamten Antarktis vorherzusagen. Klimaforschende können dann künftig noch genauer berechnen, wie stark der Meeresspiegel ansteigen wird und welche Schutzmaßnahmen am wirkungsvollsten sind. Die neue Studie ist aktuell im Fachjournal „Nature Geoscience“ veröffentlicht. Sie ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit von der University of Houston, dem DLR-Institut für Hochfrequenztechnik und Radarsysteme, der University of California, der Université Grenoble Alpes sowie der italienischen Raumfahrtagentur ASI.
Komplexe Schmelzprozesse
Die Gletscher Pope, Smith und Kohler sind in den letzten 30 Jahren deutlich geschrumpft: Sie sind dünner geworden, haben Schelfeis an den Ozean verloren und sich weiter ins Land zurückgezogen. Auffällig war hier der Rückgang der Aufsetzlinie, also die Grenze, an der das Eis den Kontakt zum Festland verliert und beginnt, auf dem Meer zu schwimmen. Daher richteten die Radar-Expertinnen und -Experten ein Augenmerk auf diesen Übergangsbereich. So konnten sie auch erstmals drastische Veränderungen des Pope-Gletschers nachweisen, der sich 2017 innerhalb von nur drei Monaten mit einer Geschwindigkeit von 11,7 Kilometer pro Jahr zurückzog.
Erdbeobachtungssatelliten sind für die Gletscher- und Klimaforschung unverzichtbar geworden. „Früher mussten wir jahrelang warten, bis wir endlich verwertbare Daten zu den Polregionen hatten. Dank der hochleistungsfähigen Satellitenmissionen TanDEM-X und COSMO-SkyMed können wir die Polregionen heute im Monatsrhythmus analysieren. Aus den Aufnahmen und mit neuen Methoden zur Datenauswertung gewinnen wir zudem eine völlig neue Ebene an Details, um Gletscher- und Klimamodelle weiter zu verbessern“, erzählt DLR-Gastwissenschaftler Prof. Pietro Milillo von der University of Houston, Texas. Durch die gezielte Analyse von TanDEM-X-Zeitreihen konnten sie die Veränderungen sogar im Zwei-Wochen-Takt statt alle vier Wochen nachvollziehen.
Die neue Studie liefert damit ein weiteres wichtiges Puzzleteil für die Gletscher- und Klimaforschung. Die physikalischen Schmelzprozesse von Pope, Smith und Kohler laufen ja bei den anderen Gletschern rund um die Amundsen-See identisch ab. Die Riesen Thwaites und Pine Island könnten mit ihren hohen Masseverlusten die restliche Westantarktis destabilisieren, mit verheerenden Folgen für das Leben auf der Erde. Wenn Klimamodelle künftig berücksichtigen, wie stark eine schwimmende Eisplatte von unten schmilzt, könnten sie auch den Rückgang von Gletschern noch genauer bestimmen.
Schlüsselprozess: Abschmelzen der freischwimmenden Gletscherunterseite
Die Unterseite eines Gletschers entzieht sich unseren Blicken, sodass der Eisverlust nicht direkt messbar ist. Mithilfe von digitalen TanDEM-X-Höhenmodellen konnten die Wissenschaftler diese verborgene Schmelzrate nun genau bestimmen. Während zum Beispiel der Smith-Gletscher über Land im Zeitraum von 2011 bis 2019 etwa fünf Meter pro Jahr abschmolz, betrug die Schmelzrate an der frei schwimmenden Gletscherunterseite ungefähr 22 Meter pro Jahr. An bestimmten Stellen wies Smith sogar Schmelzraten von mehr als 100 Meter pro Jahr auf, mit einem Spitzenwert von 140 Meter pro Jahr in 2016.
Einige Untersuchungen mit Klimamodellen bestätigten, dass die Computerberechnungen der Aufsetzlinie nur dann mit den tatsächlichen Messungen übereinstimmen, wenn sie die neuen Werte der Schmelzrate miteinkalkulieren. Darüber hinaus haben die neuen Radardaten und Erkenntnisse den Forschungsverbund International Thwaites Glacier Collaboration maßgeblich dabei unterstützt, Messkampagnen vorzubereiten und geeignete Stellen für Testbohrungen auszuwählen.
„Für die Bestimmung der Abschmelzraten haben wir am DLR zusätzlich mehr als 240 digitale TanDEM-X-Höhenmodelle erzeugt, die die Westantarktis von 2011 bis 2019 hochgenau abbilden“, sagt Co-Autorin Dr. Paola Rizzoli vom DLR-Institut für Hochfrequenztechnik und Radarsysteme. Dazu gehört eine eingespielte Produktion: Das Deutsche Raumfahrtkontrollzentrum ist für den Betrieb von TerraSAR-X und TanDEM-X verantwortlich und kommandiert die Zwillingssatelliten für die benötigten Aufnahmen. Aufgezeichnet werden die Radardaten vom Deutschen Fernerkundungsdatenzentrum an seinen Empfangsstationen in Neustrelitz, Inuvik (kanadische Arktis) und GARS O’Higgins (Antarktis). Das DLR-Institut für Methodik der Fernerkundung liefert die Eingangsdaten für die automatisierte TanDEM-X-Prozessierungskette. Die interferometrische Prozessierung, Geokodierung und Kalibrierung der TanDEM-X-Aufnahmen wurde am DLR-Institut für Hochfrequenztechnik und Radarsysteme implementiert und durchgeführt.
Zukunft L-Band
Die Spitzenposition Deutschlands im Bereich Radarforschung und Radartechnologie ermöglicht die Entwicklung einer neuen Generation von Radarsatelliten, die die dringend benötigten Datengrundlagen für Forschung und Weltgemeinschaft erweitern. Dadurch können Wissenslücken geschlossen und Lösungen für globale gesellschaftliche Herausforderungen erarbeitet werden. Die technischen wie auch wissenschaftlichen Kompetenzen können für künftige Satellitenmissionen, vor allem im L-Band, weiter ausgebaut werden.
Radarsatelliten mit einem langwelligen Frequenzbereich haben den Vorteil, dass sie auch durch Vegetation hindurch bis zum Boden blicken können. In den Polregionen könnte eine Radarmission im L-Band Gletscherstrukturen und dynamische Prozesse wie das Abschmelzen noch genauer abbilden. Deutschland könnte hier weiter neue Maßstäbe in der Erdbeobachtung setzen, den globalen Wandel mit einer neuen Qualität beobachten und wichtige Handlungsempfehlungen ermöglichen.