17. Mai 2021 | Im Gespräch mit Prof. Meike Jipp

Verkehrsforschung bringt gesellschaftliche Bedürfnisse und technologische Möglichkeiten zusammen

Seit April 2021 leitet Prof. Meike Jipp das DLR-Institut für Verkehrsforschung am Standort Berlin. Die studierte Psychologin arbeitete zunächst drei Jahre im DLR-Institut für Flugführung, danach sechs Jahre im DLR-Institut für Verkehrssystemtechnik. Während dieser Zeit habilitierte sie sich an der Technischen Universität Braunschweig. Gemeinsam mit ihrem interdisziplinären Institut, das aus rund 80 Mitarbeitenden besteht, geht sie nun grundlegenden Fragen der Verkehrsforschung nach und untersucht dabei unter anderem, welche zukünftigen Technologien den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden.

Frau Jipp, Sie arbeiten seit 2010 im DLR. Was reizt Sie besonders an der neuen Aufgabe, das Institut für Verkehrsforschung zu leiten?

Mich reizt sehr Vieles an der Leitung des Instituts. Ein Aspekt sticht jedoch heraus: Ich leite ein sozialwissenschaftliches Institut in einer ingenieurwissenschaftlichen Forschungseinrichtung. Hiermit entsteht die – in Deutschland – einzigartige Chance, die Bedürfnisse der Gesellschaft mit technologischen Möglichkeiten zusammenzubringen. Was hilft uns eine Technologie, die an Bedürfnissen und Bedarfen vorbei entwickelt wurde? Was hilft uns das Wissen über Bedarfe und Bedürfnisse, wenn uns die Technologie fehlt, diese Bedarfe und Bedürfnisse zu stillen? Sie sehen, ich bin davon überzeugt, dass es die Interdisziplinarität braucht, um unserer Gesellschaft Lösungen für die Herausforderungen von morgen aufzeigen zu können. Diese Interdisziplinarität bietet mir das Institut für Verkehrsforschung im Umfeld des DLR an, und das überzeugt mich.

Als Psychologin haben Sie einen ganz besonderen Blick auf die Mobilität und den Verkehr. Welche Frage treibt Sie in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit an? Was motiviert Sie?

Als Psychologin interessiere ich mich für Menschen, und die Mobilität ist ein ganz wichtiges Thema für die Menschen: Wir wollen zum Beispiel in den Supermarkt, um Lebensmittel zu kaufen. Wir fahren mit unserem eigenen Auto ins Büro (natürlich außerhalb der Pandemie-Zeiten, wenn wir nicht im Home-Office arbeiten!). Wir fliegen in den Urlaub, um uns zu erholen. Bei diesen Beobachtungen interessieren mich zunächst die Warum-Fragen: Warum nutzen wir das eigene Fahrzeug, um ins Büro zu kommen? Warum fliegen wir in den Urlaub? Wenn ich Antworten auf diese Fragen habe, interessiert mich, was ich denn verändern müsste, um unser Verhalten zu ändern. Zum Beispiel: Was müsste passieren, so dass wir mit dem Fahrrad ins Büro fahren? Antworten auf solche Fragen helfen uns, um die Mobilität zum Besseren zu verändern. Verkehr hat nämlich auch negative Konsequenzen zum Beispiel für das Klima. Wenn mehr Personen lieber mit dem Fahrrad als mit dem Auto ins Büro fahren würden, wäre das gut für das Klima. Sie sehen also: Mich motiviert, Mobilitätsverhalten mit unserer Forschung besser verstehen zu können und aus diesem Verständnis ableiten zu können, wie wir Mobilität zum Besseren verändern können.

Es ist wichtig, auf aktuelle gesellschaftliche Fragen Antworten geben zu können. Während der Corona-Pandemie haben Sie das mit aktuellen wissenschaftlichen Studien gezeigt. Welche Kompetenzen im Institut sind dafür wichtig? Welche zukünftigen Entwicklungen sehen Sie für Ihr Institut?

Wir sind ein sozialwissenschaftliches Institut, das interdisziplinär aufgestellt ist: Die Mitarbeitenden haben Abschlüsse zum Beispiel in Geographie, Volkswirtschaftslehre, Betriebswirtschaftslehre, Informatik, Mathematik, Ingenieurswesen, Soziologie und Psychologie. Diese unterschiedlichen Kompetenzen brauchen wir, denn Verkehr wird von vielen Faktoren geprägt: von den Menschen, die mobil sind; von Raumstrukturen, in denen Verkehr stattfindet; von finanziellen Konsequenzen des Verkehrs. Eine exzellente Verkehrsforschung bedingt auch, dass wir in der Sammlung und Auswertung von Daten sehr gut sind. Wir nutzen einerseits klassische, sozialwissenschaftliche Befragungen und andererseits Erhebungen von großen Datenmengen zum Beispiel mit Smartphones. Hierfür haben wir Kompetenzen aus den Bereichen der Informatik und der Mathematik am Institut, die wir sicherlich noch ausbauen werden. Wie wäre es denn, wenn Sie bei Ihrem nächsten Besuch bei uns Ihre zukünftige Stadt und die Mobilität in dieser Stadt im Jahr 2050 selbst erleben würden? Wir könnten zum Beispiel mit Hilfe von Hologrammen zeigen, wie sich der Platz vor Ihrer Haustür verändern würde, wenn dort keine Parkplätze, sondern Begegnungsstätten wären. Wir könnten mit Hilfe von großflächigen Simulationsflächen und entsprechenden Lautsprechern demonstrieren, wie Ihr Blick aus dem Fenster aussehen würde, wenn Sie in Ihrem Haus die Treppe nach oben laufen, wie sich die Geräusche verändern, wenn zum Beispiel Drohnen durch die Straßenfluchten fliegen und wichtige Medikamente ausliefern. Wenn Sie dies in einer simulativen Welt selbst erleben, können Sie uns viel eher sagen, ob Ihnen dies gefällt. Und damit sind solche Technologien auch für die Verkehrsforschung wichtig.

Was denken Sie, werden die zukünftigen Forschungsfragen des Instituts sein? Was sind die gesellschaftlichen Fragen der Zukunft hinsichtlich des Verkehrs? Welche Themen könnten zukünftig bestimmend sein?

In der Verkehrsforschung stehen wir vor einer großen Herausforderung: Wir müssen einerseits unseren Beitrag dazu liefern, dass die Klimaschutzziele erreicht werden. Wir müssen andererseits auch einen Beitrag dazu liefern, dass die Bevölkerung so mobil sein kann, wie sie es will. Diese Ziele können sich widersprechen und somit einen gordischen Knoten darstellen, der gelöst werden muss. Als wäre dies nicht schon schwer genug, haben wir es durch die derzeitige Pandemiesituation mit Veränderungen zu tun, die uns langfristig nicht unbedingt helfen: Vermehrte Umzüge in das Umland der Ballungsgebiete können dazu führen, dass täglich längere Pendelstrecken mit dem eigenen Fahrzeug zurückgelegt werden (müssen). Die reduzierte Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs, die Zunahme des Online-Handels und des Lieferverkehrs könnten sich verstetigen. Wie kann also das Vertrauen in den öffentlichen Personennahverkehr wieder gestärkt werden? Wie können Waren möglichst klimaneutral zum Kunden gebracht werden? Wie sehen zukünftige Arbeitsstrukturen aus, und wie passt die Mobilität dazu? Vielleicht hilft uns bei der Beantwortung dieser Fragen die Erfahrung, die wir während dieser Pandemie machen: Wir haben nämlich gelernt, einige Lösungen, wie zum Beispiel Pop-Up Radwege, temporär zu implementieren, auszuprobieren und festzustellen, ob sie für unsere Gesellschaft gut sind. Solche temporär implementierten Lösungen und die wissenschaftliche Begleitung können uns helfen, den gordischen Knoten zu lösen. Daher ist für mich auch die Transformation der erforschten Lösungen in die Realität wichtig.

In Ihrem Institut beschäftigen Sie sich mit Fragen zum Mobilitätsbedarf und deren Lösungen in Städten und auf dem Land. Wie wichtig ist es, auch über die Grenzen, in andere Länder, zu schauen? Können wir von anderen Ländern lernen? Sind Vergleiche möglich und sinnvoll? Kann Deutschland in mancher Hinsicht auch Vorbild sein?

Der Blick über Grenzen ist für uns essentiell. Wir profitieren von sehr interessanten Projekten und pflegen sehr gute Kooperationen mit Partnern innerhalb und außerhalb Europas. In Deutschland verändert sich der Verkehr derzeit deutlich. So steigt die Anzahl der Verkehrsangebote stark an. Es gibt inzwischen zum Beispiel E-Scooter, Car-Sharing oder Bike-Sharing Angebote. Vor zehn Jahren gab es diese Angebote so noch nicht. Ähnliche Entwicklungen gibt es im Ausland, allerdings auch mit anderen Angeboten. In Medellín, Kolumbien wurden zum Beispiel urbane Seilbahnen eingeführt; in Dar-Es-Salaam, Tansania prägen TukTuks das Stadtbild. Dank gemeinsamer Projekte und Kooperationen lernen wir, wie diese Angebote die Mobilität in den entsprechenden Städten und Ländern verändert haben, ob sie zum Beispiel den PKW-Besitz beeinflussen konnten. Wir können darauf aufbauend einschätzen, ob diese Angebote auch für uns in Deutschland einen Mehrwert liefern können. Natürlich geht es dann in den gemeinsamen Projekten auch darum, dass die Länder, Städte, Kommunen von unseren Erfahrungen lernen. Wir pflegen Partnerschaften auf Augenhöhe!

Was wäre, wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Welches Verkehrsthema, welche Frage würden Sie persönlich gern wissenschaftlich näher beleuchten?

Ich wünsche mir natürlich als Erstes weitere Wünsche. Wenn ich mich aber mit nur einem freien Wunsch begnügen muss, dann konzentriere ich mich gerne auf das Thema Emotionen und deren Relevanz in der Verkehrsforschung. Wir gehen häufig davon aus, dass Menschen rational Mobilitätsentscheidungen zum Beispiel für oder gegen die Nutzung eines Verkehrsmittels treffen. Ich bin aber davon überzeugt, dass Emotionen solche Entscheidungen deutlich stärker beeinflussen als wir denken. Stellen Sie sich zum Beispiel folgende Situation vor: Sie sind in einer großen Stadt unterwegs. Sie nutzen die U-Bahn, um zu Ihrem Zielort zu kommen. Die Bahn ist hoffnungslos überfüllt; ein anderer Passagier, der gerade einsteigt, drängelt sich an Ihnen vorbei und schiebt Sie mit seinem Rucksack zur Seite, um zur Haltestange zu gelangen. Sie fühlen sich bedrängt. Sie ärgern sich. Diese Emotion kommunizieren Sie auch nonverbal: Sie verändern Ihre Körperhaltung und Ihren Gesichtsausdruck. Die Person, die Sie angerempelt hat, sieht das aber nicht. Die Bahn ist einfach zu voll. Und somit entschuldigt sie sich auch nicht bei Ihnen. Dadurch entsteht auch eine Unzufriedenheit mit der U-Bahn und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Sie bei der nächsten Fahrt ein anderes Verkehrsmittel bevorzugen. Solche Prozesse, die stark von Emotionen beeinflusst werden, untersuchen wir derzeit kaum, und ich wünsche mir, dass sich dies ändert. Mal sehen, ob wir unsere gute Fee von dieser Idee überzeugen können. Sie werden von uns hören!

Das Gespräch führte Melanie-Konstanze Wiese.

Kontakt

Melanie-Konstanze Wiese

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Prof. Dr. Meike Jipp

Institutsdirektorin
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Rudower Chaussee 7, 12489 Berlin