MAPHEUS-9-Nutzlasten
-
Normalerweise mögen es Plattentiere schon etwas wärmer. Für die Wissenschaft hat es das einfachste mehrzellige Tier der Welt nach Nordschweden verschlagen – und von dort aus für kurze Zeit in die Schwerelosigkeit. An Bord der Höhenforschungsrakete MAPHEUS-9 des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) hoben die Meeresorganismen am 29. Januar 2022 erfolgreich vom Raketenstartplatz ESRANGE (European Space and Sounding Rocket Range) ab. Auch drei weitere Experimente aus dem Bereich der Physik, Werkstoffforschung und Fertigungstechnologie konnten sich über sechs Minuten und zehn Sekunden in Schwerelosigkeit freuen.
Die 11,7 Meter lange Rakete mit einem Startgewicht von 1,7 Tonnen erreichte in den knapp 15 Minuten zwischen Start und Landung eine maximale Höhe von 254 Kilometern. Die Nutzlast mit den wissenschaftlichen Experimenten flog nach dem Abtrennen der Booster eine Höhenparabel. Sie landete gebremst durch einen Fallschirm und wurde per Helikopter geborgen. Die Abteilung Mobile Raketenbasis (MORABA) des DLR hat die Flugkampagne vorbereitet und durchgeführt. Außerdem stellt sie Bergungssystem, Service-Modul, Kaltgaskontrollsystem, Trenn- und Zündsysteme, Telemetrie-Station, Startrampe und die Raketenhardware bereit.
Trotz ihres einfachen Aufbaus können Plattentiere – Trichoplax adherens – zwischen oben und unten unterscheiden, also Schwerkraft wahrnehmen. Rund 450 Exemplare dieser nur 0,5 Millimeter großen Meeresorganismen waren an Bord der MAPHEUS-9-Mission. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler interessierten sich vor allem dafür, wie sich die Schwerelosigkeit auf die Plattentiere auswirkt. „Wir schauen uns die genetischen Reaktionen der Organismen in Schwerelosigkeit an. Besonderes Augenmerk richten wir auf die Gengruppen, die für die Polarität, also den Aufbau unserer Zellen im Körper, verantwortlich sind. Die Polarität geht bei der Entstehung von Krebs verloren“, fasst Gravitationsbiologe Dr. Jens Hauslage vom DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin zusammen. Im Projekt GraviPlax (Gravitation/Trichoplax) arbeitet das DLR mit Teams der Tierärztlichen Hochschule Hannover (TiHo) und der australischen La Trobe Universität in Melbourne eng zusammen. Diese führen die molekularbiologischen Analysen durch, um die Auswirkungen auf die Zellen genau nachzuvollziehen. Die winzigen Organismen haben alle wichtigen Gengruppen, die notwendig sind, um diese grundlegenden Mechanismen zu untersuchen und besser zu verstehen.
Granulate sind körnige Feststoffe wie beispielsweise Pulver, Erdboden oder Kies. Ihre physikalischen Eigenschaften lassen sich nicht so einfach verstehen. Denn sie hängen entscheidend davon ab, wie eng ein Granulat aufgeschüttet oder in der Fachsprache „gepackt“ ist und wie verdichtet beziehungsweise komprimiert es ist. Im Experiment GRASCHA (GRAnular Sound CHAracterization oder GRAnulat SCHAll) dienen kugelförmige Teilchen aus Glas mit Durchmessern von drei bis vier Millimetern als Granulat. Mit ihrer Hilfe will das wissenschaftliche Team bestehende und neue Theorien testen, die den Verlust der mechanischen Stabilität von Granulat-Packungen erklären. „Wir haben die Chance, grundsätzlich zu verstehen, wie Granulate ihre Eigenschaften erhalten“, erklärt DLR-Forscher Dr. Karsten Tell vom Institut für Materialphysik im Weltraum. „Wichtig ist das unter anderem im Bereich der Geophysik. Wenn man zum Beispiel verstehen will, warum der Erdboden manchmal plötzlich anfängt zu rutschen. Er besteht aus lauter festen Teilchen. Geringe Änderungen in deren Anordnung können dazu führen, dass sich der Erdboden nicht mehr fest verhält, sondern eher wie eine Flüssigkeit.“ Neben Erdrutschen ließen sich mit diesem Wissen auch Lawinen besser erklären. Die Erkenntnisse können zudem für die chemische und pharmazeutische Industrie interessant sein. Denn dort finden oft pulverförmigen Stoffe Verwendung, die man verfahrenstechnisch möglichst gut verarbeiten, fördern und vermischen will. Gleiches gilt für Sand und Zement in der Bauindustrie. Die Phase der Schwerelosigkeit während des MAPHEUS-9-Flugs erlaubte es, die Teilchen des Granulats so locker anzuordnen, dass sie gerade noch Kontakt miteinander hatten. Auf der Erde lässt sich dieser Zustand aufgrund der Schwerkraft und des hydrostatischen Drucks nicht herstellen. Bei der kleinsten Vibration verliert die Granulat-Packung in der Schwerelosigkeit ihre Stabilität – in der Fachsprache als Schermodul bezeichnet. Genau dieser Vorgang interessiert die Forschenden am meisten. Um ihn zu untersuchen, messen sie die Geschwindigkeit von Schall- und Scherwellen. Daraus geht hervor, wie schnell der Schermodul absinkt, wenn der Packungsdruck verringert wird.
Zum dritten Mal machte sich das MARS-Experiment (Metallbasierte Additive Fertigung für Raumfahrt- und Schwerelosigkeitsanwendungen) auf die kurze Reise ins All. Im Fokus standen weitere Arbeiten, um 3D-Druck vor allem mit pulverförmigen Substanzen unter Schwerelosigkeit zu erforschen. Ein erstes Werkstück aus metallischem Massivglas hatte das DLR-Team vom Institut für Materialphysik im Weltraum bereits bei den vorangegangenen Flügen hergestellt. Nun galt es, den Prozess weiter zu optimieren: „Die Herausforderung besteht vor allem darin, das Pulver in kurzer Zeit unter Schwerelosigkeit oder bei wenig Gravitation gleichmäßig auf die Oberfläche aufzutragen“, beschreibt DLR-Forscherin Mélanie Clozel. „Mit jedem Flug unseres Experiments in die Schwerelosigkeit haben wir die Möglichkeit, unsere Ansätze weiterzuentwickeln, zu testen und so unser Know-how zu vergrößern.“ Metallisches Massivglas zeichnet sich durch seine hohe Festigkeit und Korrosionsbeständigkeit aus. Beides sind wichtige Eigenschaften für den Einsatz im Weltraum. In Zukunft könnten mit 3D-Druck Komponenten auch direkt im All gefertigt werden, zum Beispiel auf Raumstationen. Auf der Oberfläche von Mond oder Mars könnte auch Regolith – pulverförmigem Gesteinsstaub – verwendet werden, um beispielsweise Bauteile herzustellen.
Die Experiment-Plattform SOMEX (SOft Matter EXperiments) ermöglicht unterschiedliche Versuche mit weicher Materie in der Schwerelosigkeit. Auch sie war bei der Flugkampagne MAPHEUS-9 erneut mit dabei. Unter weicher Materie versteht man eine Vielzahl von Materialien, die aus zwei Phasen bestehen. Sie befinden sich zwischen den Aggregatzuständen fest und flüssig. Dazu zählen zum Beispiel Gele und zähflüssige Flüssigkeiten wie Seife oder Farbe, Granulate, Schäume und auch biologische Zellen. Mit Hilfe von Lasermessverfahren sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dieses Mal zwei physikalischen Phänomenen auf die Spur gegangen: Mit Hilfe von künstlichen Mikroschwimmern wollen die Forschenden Bewegungseffekte besser verstehen, wie man sie von lebenden Organismen kennt. Dazu zählt beispielsweise die Schwarmbildung von Bakterien. Sie nutzten dazu winzig kleine Glaskügelchen, die in einem Lösungsmittel schwammen. Diese waren mit einer Beschichtung versehen, die Licht sehr stark absorbiert. Bestrahlt man die Glaskügelchen mit einem Laser, nehmen sie das Licht beziehungsweise die Wärmeenergie auf und bewegen sich. Außerdem untersuchten sie – ergänzend zum Experiment GRASCHA – ebenfalls Granulate: Im Mittelpunkt stand auch hier die Frage, wie sich die einzelnen Partikel des Granulats bewegen. So lassen sich auf experimentellem Weg neue Erkenntnisse über die Struktur und Dynamik solcher Systeme gewinnen und mit theoretischen Modellen vergleichen.
Die ausführliche Beschreibung der Experimente steht auf dieser Seite zum Download zur Verfügung.
Über MAPHEUS:
Das MAPHEUS-Höhenforschungsprogramm (MAterialPHysikalische Experimente Unter Schwerelosigkeit) des DLR-Instituts für Materialphysik im Weltraum wird bereits seit 13 Jahren durchgeführt. Es ermöglicht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern innerhalb und außerhalb des DLR einen unabhängigen und regelmäßigen Zugang zu Experimenten in Schwerelosigkeit. Dabei gehen Fortschritte im Bereich der Messtechnik und die Realisierung hochentwickelter Flughardware Hand in Hand mit richtungsweisenden Experimenten im Bereich der Material- und Lebenswissenschaften. Aufgrund der Corona-Pandemie mussten die geplanten Flüge umgestellt werden: Die Kampagne 11 fand im Mai 2021 statt, gefolgt von der Kampagne 10 im Dezember 2021. Angetrieben wurde die Höhenforschungsrakete zum dritten Mal von einer IM-IM-Konfiguration. IM steht für Improved Malemute und bezeichnet den zivil genutzten Feststoffmotor der militärischen Boden-Luft-Rakete PATRIOT PAC-2.