EXPERI
Wandel von Straßenräumen
Zur Verkehrswende gehört auch die Frage, wie urbane Räume neugestaltet und genutzt werden, wenn Autos künftig weniger Platz einnehmen und andere Verkehrsmittel das Straßenbild stärker bestimmen. Dadurch entsteht die Möglichkeit, attraktivere, grüne und gesunde Quartiere zu schaffen. Im Forschungsvorhaben wird experimentell untersucht, wie die Veränderung von Straßenräumen von der Stadtbevölkerung und Gewerbetreibenden angenommen und genutzt wird und wie urbane Aufenthaltsqualitäten erhöht, öffentliche Räume für die Stadtbewohnenden geschaffen und eine gesundheitsfördernde Fortbewegung ermöglicht werden kann. Im Rahmen von drei Realexperimenten in Berlin werden Straßenräume (temporär) verkehrsberuhigt und umgestaltet. Zudem werden Potenziale identifiziert, wieviel Fläche außerhalb des Straßenraums aktuell durch Autoinfrastruktur in Anspruch genommen wird und für welche anderweitigen Nutzungsmöglichkeiten, beispielsweise zum Wohnen, bestehen würden.
Experimentierräume, um Stadtquartiere neu zu denken
In Berlin Charlottenburg wurde im Herbst 2020 eine Kreuzung für fünf Wochen zu einem Stadtplatz, der Lausitzer Platz in Kreuzberg wird seit Winter 2020 sukzessive zur Fußgängerzone umgestaltet und in Schöneberg wurde eine Straße im Sommer 2021 autofrei und durch Parklets zu einem Aufenthaltsort umgestaltet.
Durch partizipative Formate und gemeinsame Gestaltungsaktivitäten wird die Nachbarschaft angeregt, eigene Ideen und Gestaltungswünsche einzubringen und umzusetzen. Die (temporäre) Transformation des öffentlichen Raums wird mit einer Reihe an quantitativen und qualitativen Methoden evaluiert, etwa mit Haushaltsbefragungen, (Experten-)Interviews, Verkehrszählungen, Kartierungen oder Geoinformationssystem-Analysen (GIS-Analysen).
Transfer durch Einbindung der Praxis
Das Projekt wird durch einen wissenschaftlichen Beirat und Praxispartnerinnen &Praxispartner begleitet, um die Entwicklung von praxisorientierten Lösungsbausteinen sicherzustellen. Zudem wurden während der Realexperimente unterschiedliche Stakeholder einbezogen und miteinander vernetzt.
Hebel der Verkehrswende im Experimentierraum
Es zeigt sich, dass die Umgestaltung von Straßen derzeit ein kontroverses Thema ist, wobei jüngere Menschen der Veränderung gegenüber aufgeschlossener sind als ältere. Besonders entscheidend für die Akzeptanz der Umgestaltung ist das tägliche Mobilitätsverhalten: Sofern Menschen häufig das Auto für ihre Wege nutzen, nehmen sie ihr Umfeld anders wahr und sind deutlich ablehnender eingestellt. Gleichzeitig fördert die Nutzung des Fahrrads die Akzeptanz von Verkehrsberuhigungen. Die Ergebnisse der Realexperimente können im Kleinen aufzeigen, welche Stellschrauben für die (gesamtstädtische) Verkehrswende von Bedeutung sind: Nämlich, dass die Verkehrsmittelwahl entscheidend ist für den Bedarf nach Verkehrsberuhigungen. Was die konkrete Ausgestaltung der neuen urbanen Räume betrifft, ist man sich einig: vor allem Grünflächen und Sitzgelegenheiten im öffentlichen Raum sind erwünscht.
Für den Transfer werden die Ergebnisse in den Kontext internationaler Beispiele von fahrrad- und fußgängerfreundlicher Infrastruktur eingebettet (z. B. Superblocks in Barcelona, autofreies Zermatt, Fußgängerzone Gent). Methodisch liefert das Format der Realexperimente darüber hinaus aufschlussreiche Erkenntnisse: Es konnten Erfahrungen gesammelt werden, welche Restriktionen bei der Durchführung auftreten können und wie das Zusammenspiel mit anderen relevanten Akteuren, wie der Verwaltung oder Politik, funktioniert und welche (hybride) Rolle Forschende dabei einnehmen.
Die Ergebnisse der Flächenpotenzialanalyse der Pkw-Infrastrukturen außerhalb des Straßenraums zeigen beispielhaft für Berlin, dass viel Fläche zur Verfügung steht, sofern künftig eine Verlagerung vom Pkw zu anderen Verkehrsmitteln stattfindet. Dieses Flächenpotenzial könnte für Wohnungen eingesetzt werden, wodurch die Ziele von Wohnungsneubau und dem Stopp der Zersiedelung im suburbanen Raum Rechnung gleichzeitig getragen werden könnte.
Publikationen
- Kehlbacher, Ariane und Stark, Kerstin und Gebhardt, Laura und Jarass, Julia und Schuppan, Julia (2023) Comparing municipal progress in implementing temporary cycle lanes during the Covid-19 pandemic. Transportation Research Part A: Policy and Practice, 174. Elsevier. doi: 10.1016/j.tra.2023.103752. ISSN 0965-8564. Volltext nicht frei.
- Marquart, Heike und Stark, Kerstin und Jarass, Julia (2022) How are air pollution and noise perceived en route? Investigating cyclists' and pedestrians’ personal exposure, wellbeing and practices during commute. Journal of Transport and Health, 24 (101325). Elsevier. doi: 1016/j.jth.2021.101325. ISSN 2214-1405. Volltext nicht frei.
- Guihéry, Laurent und Jarass, Julia (2022) Mobility and transport policy in Germany and France: time for change and... joint solutions? In: Cities and Metropolises in France and Germany Forschungsberichte der ARL. Seiten 128-144. ISBN 978-3-88838-112-6. Volltext nicht online.
- Jarass, Julia und Nähring, Antonia und Merzoug, Shari und Becker, Sophia und Götting, Katharina und Kläver, Anke und Czeh, Alexander (2021) Platz statt Kreuzung. Straßenraum neu denken: Mehr Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum als Treiber für die Verkehrswende. Internationales Verkehrswesen, 73 (4), Seiten 18-22. Deutscher Verkehrs Verlag Media Group, Hamburg. ISSN 0020-9511. Volltext nicht online.
- Merzoug, Shari und Jarass, Julia (2021) Emotionen beim Zufußgehen im urbanen Raum. Einflüsse eines alltäglichen Fußwegs auf das mentale Wohlbefinden in Berlin. Internationales Verkehrswesen, 73 (4), Seiten 64-68. Deutscher Verkehrs Verlag Media Group, Hamburg. ISSN 0020-9511. Volltext nicht online.
- Stark, Kerstin und Schuppan, Julia und Kehlbacher, Ariane und Jarass, Julia und Gebhardt, Laura (2021) Urban Mobility, Working Culture and Administration During the COVID-19 Crisis: Adjustments for a Resilient City. In: Global reflections on COVID-19 and urban inequalities. Volume 4: Policy and Planning Global reflections on COVID-19 and urban inequalities, 4. Bristol University Press. ISBN 1529219043. Volltext nicht frei.
- Jarass, Julia und Schuppan, Julia und Stark, Kerstin (2021) Wie Corona das Mobilitätsverhalten verändert und was das für den nachhaltigen Stadtverkehr bedeutet. In: Die Europäische Stadt nach Corona. Strategien für resiliente Städte und Immobilien Springer Gabler, Wiesbaden. Seiten 79-95. doi: 1007/978-3-658-35431-2. ISBN 978-3-658-35430-5. Volltext nicht online.
- Heinrichs, Dirk und Jarass, Julia (2020) Alltagsmobilität in Städten gesund gestalten: wie Stadtplanung Fuß- und Radverkehr fördern kann. Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz (63), Seiten 945-952. Springer. doi: 1007/s00103-020-03180-1. ISSN 1436-9990. Volltext nicht online.
- Jarass, Julia (2019) Zufußgehen – Sicher durch die Stadt. In: So geht's. Fußverkehr in Städten neu denken und umsetzen Edition Difu, 18. ISBN 978-3-88118-643-8. Volltext nicht online