30. August 2024

Kalibrierung einer Instrumentierung für Lastidentifikation im Flugexperiment

Flugzeuge sollten so leicht wie möglich sein. Dazu wird deren Primärstruktur (engl.: Airframe) für gegebene Betriebslasten optimiert. Die genaue Kenntnis der im Betrieb auftretenden Lasten ist dabei für die Dimensionierung der Primärstruktur von besonderer Wichtigkeit.

Lastannahmen im Flugzeugentwurf

Die Auswirkungen statischer Lasten (z.B. Auftrieb und Manöver) und dynamischer Lasten (z.B. Böentreffer und/oder Turbulenzen) werden im Flugzeugentwurf mit Modellen und Annahmen berechnet. Die Validierung dieser Modelle kann helfen, allzu konservative Lastannahmen zu vermeiden und damit eine optimale, auf die Belastung abgestimmte Struktur zu entwerfen.

Die zu berücksichtigenden Belastungen setzen sich aus einer Vielzahl von Lastfällen zusammen, die im Laufe eines Flugzeuglebens auftreten können. Die experimentelle Ermittlung von tatsächlichen Lasten aus einer Vielzahl von Flugzuständen und Manövern kann helfen, die Lastannahmen für den Flugzeugentwurf zu verbessern und auch die Lebensdauer des Airframe besser abschätzen zu können.

Schnittlasten und Dehnungsmessstellen

Von außen wirkende Lasten stehen mit inneren Lasten (d.h. Schnittlasten) im Gleichgewicht. Schnittlasten, welche für die Dimensionierung von besonderem Interesse sind, umfassen z.B. Biegemomente, Querkräfte und Torsionsmomente in Flügeln oder Leitwerken. Dimensionierung meint dabei die Festlegung der Mindestgröße von Bauteilen, damit Betriebslasten sicher ertragen werden können. Für diesen Zweck wurde das DLR-Forschungsflugzeug ISTAR (In-Flight Systems and Technology Airborne Research) – eine Dassault Falcon 2000 LX – mit einer dauerhaften Instrumentierung mit Dehnungsmessstreifen (DMS) ausgestattet. Diese ermöglicht es, die Schnittlasten in Flügeln und Leitwerken experimentell im Flug zu ermitteln.

Die Dehnungen infolge der äußeren Lasten werden beim ISTAR an 40 Messstellen mit DMS erfasst. An jeder Messstelle werden jeweils 4 DMS in einer Vollbrücke zusammengeschaltet. Dadurch erhöht sich die Empfindlichkeit der Instrumentierung bei gleichzeitiger Reduktion des Einflusses unerwünschter Dehnungen (z.B. infolge von Temperatureinflüssen).

Kalibrierung und Skopinski-Methode

Eine direkte Ermittlung der Schnittlasten aus gemessenen Dehnungen ist nur bei Bauteilen mit einfachen Geometrien und bekannten Werkstoffkennwerten möglich. Bei komplexen Bauteilen bzw. Systemen, die aus verschiedenen Werkstoffen bestehen, ist für die experimentelle Ermittlung von Lasten eine Kalibrierung der Instrumentierung erforderlich.

Hierfür werden bekannte statische Lasten mit vorgegebenen Positionen und Richtungen in die Struktur eingeleitet und jeweils die zugehörigen Dehnungen an allen Messstellen erfasst. Wenn die Anzahl der Belastungsfälle größer oder mindestens gleich der Anzahl der Messstellen ist, kann eine lineare Beziehung zwischen Lasten und Dehnungen hergeleitet werden.

Für die experimentelle Ermittlung der Lasten – bei der die äußere Belastung nicht von vorn herein bekannt ist – werden zunächst die Dehnungen gemessen. Anhand der hergeleiteten Beziehung zwischen den Lasten und Dehnungen können nun die tatsächlich angreifenden Lasten bestimmt werden. Diese Methodik (Skopinski-Methode) wurde in den 1950er Jahren von der NASA entwickelt und wird noch heute eingesetzt.

ISTAR und DMS-Instrumentierung

Die Instrumentierung von ISTAR für aeroelastische Untersuchungen wurde in Kooperation zwischen dem DLR-Institut für Aeroelastik und Dassault Aviation entwickelt. Die Positionen und Arten der Messbrücken für Dehnungen sind in Bild 1 gezeigt. Damit konnten bisher lediglich Dehnungen der Primärstruktur im Flugexperiment aufgezeichnet werden. Für die Bestimmung der zugehörigen Lasten fehlte die Kalibrierung. Hierfür ist eine spezielle Versuchsumgebung erforderlich, die von Dassault Aviation in deren Flugtestzentrum in Istres nahe Marseille zur Verfügung gestellt wurde.

Bild 1: Positionen und Arten von Messstellen am Simulationsmodell des DLR-Forschungsflugzeugs ISTAR
An allen Messtellen sind jeweils 4 Dehnungsmessstreifen zur Vollbrücken zusammengefasst. Blau: Messstelle für Biegemomente. Grün: Messstelle für Schubkräfte. Rot: Messstelle für Zug-/Druckkräfte.

Kalibrierversuche am ISTAR

Von November bis Dezember 2023 wurden die in Bild 2 gezeigten Versuche zur „Strain Gauges Calibration“ am ISTAR durchgeführt. Daran beteiligt waren neben den Experten von Dassault Aviation noch Mitarbeiter der DLR-Flugexperimente in Braunschweig, sowie Wissenschaftler aus dem DLR-Institut für Aeroelastik. Die während der Kalibrierung aufgebrachten Lasten erreichen ca. 30% der Entwurfslasten (Limit Loads). Für eine hohe Ergebnisqualität sollten die aufgebrachten Lasten nahezu das Niveau der im Flug erwarteten Belastungen erreichen. Dennoch sollten die Lasten niedrig genug sein, um das Risiko von Ermüdungsschäden an der Flugzeugstruktur zu minimieren.

Bild 2: Strain Gauges Calibration Test am DLR-Forschungsflugzeug ISTAR bei Dassault Aviation in Istres
Die Infrastruktur des Flugzeugherstellers wurde für die Kalibrierung der ISTAR-Instrumentierung zur Identifikation von Fluglasten eingesetzt.
Credit:

Dassault Aviation

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Versuchsplanung durch Simulation mit FE-Modell

Zur Planung der Versuche wurden alle Belastungsfälle im Voraus mit einem Finite Elemente Modell von ISTAR simuliert. Bild 3 zeigt dazu die räumliche Verteilung der Vergleichsdehnung für einen symmetrischen Belastungsfall am Vorderholm der Flügel.

Bild 3: Finite-Element-Modell des DLR-Forschungsflugzeugs ISTAR
Räumliche Verteilung der Vergleichsdehnung nach von-Mises für einen symmetrischen Belastungsfall an den Vorderholmen in positiver vertikaler Richtung. Man erkennt die Dehnungen infolge der elastischen Deformation, die in dem Fall nur auf den Flügel begrenzt sind.

Details zur Versuchsdurchführung

Um nichtlineare Effekte – z.B. Hysterese durch Reibung an Nietverbindungen – zu vermeiden, wurden an jedem Belastungspunkt jeweils zwei Lastzyklen aufgebracht. Der erste Zyklus erreicht nur ca. 60% der gewünschten Maximallast. Dabei erwartet man die unerwünschten Hystereseeffekte. Der zweite Zyklus wird dann bis zur gewünschten Maximallast gefahren, wobei die nichtlinearen Effekte dann nur noch in geringem Maße auftreten.

Beim Aufbringen der Lasten war das Flugzeug an den Jacking Points aufgebockt. Zusätzlich wurde es an diesen Stellen mit Ketten gegen den Boden verspannt, um Kippen während der Belastung zu vermeiden.

Belastungszyklen

Die Belastungen wurden in beiden Zyklen in 20%-Schritten aufgebracht. Hierfür wurden hydraulische Aktuatoren verwendet, die mit statisch messenden Kraftsensoren ausgestattet waren. Zu Beginn des ersten Belastungszyklus wurden die Signale der Instrumentierung tariert (d.h. auf Null gesetzt). Dann wurden die Signale aller Dehnungsmessstellen und der Kraftsensoren lückenlos bis zum Ende des Belastungszyklus aufgezeichnet. Das ist z.B. in Bild 4 zu erkennen.

Bild 4: Diagramm: Kalibriermessung am DLR-Forschungsflugzeug ISTAR
Zeitverlauf der Signale aller Dehnungsmessstellen über der Zeit. Man erkennt das schrittweise Aufbringen der Belastung. Während der Ruhephasen der einzelnen Schritte wurden Datenpunkte markiert, aus denen die Ergebnisse der Kalibriermessung zusammengestellt werden.

Erzeugung von Kraft-Dehnungs-Diagrammen

Aus Zeitverläufen wurden während der Versuchsdurchführung markante und repräsentative Punkte in den gemessenen Dehnungen und Erregerkräften markiert. Damit konnten im Nachgang Kraft-Dehnungs-Diagramme erzeugt werden, siehe Bild 5.

Bild 5: Kraft-Dehnungs-Diagramm ...
... für eine Messstelle aus einem Belastungsfall. Man erkennt die Setzungsbewegungen, die im Wesentlichen während des ersten Belastungszyklus erfolgen. Die Steigungen der Kraft-Dehnungs-Diagramme werden für die Skopinski-Methode benötigt.

Instrumentierung für Steuerkräfte

Auch die Aktuatorstangen aller Steuerflächen sind mit DMS instrumentiert. Diese wurden bereits zuvor durch Versuche mit einer Materialprüfmaschine kalibriert.

Nutzen für zukünftige Forschung

Mit dieser Art der Dehnungsmessung können zukünftig die am Flugzeug wirkenden Lasten über einen langen Zeitraum beobachtet werden. Daraus lassen sich u.a. Erkenntnisse über die Strukturermüdung gewinnen und darüber hinaus z.B. Wartungsintervalle des Flugzeugs an tatsächlich aufgetretene Belastungen angepasst werden.

Auch können Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge bei Fluglasten messtechnisch erfasst werden – angefangen von der Auslenkung der Steuerflächen, über Schnittlasten in Flügeln und Leitwerken bis hin zu Manöverbeschleunigungen. Hiermit lässt sich die aeroelastische Modellierung des fliegenden und manövrierenden Flugzeugs verbessern.

Nicht zuletzt dient die experimentelle Ermittlung von Fluglasten der Erstellung eines virtuellen Zwillings des Forschungsflugzeugs ISTAR. Die stetige Verbesserung der Übereinstimmung von virtuellem und realem Produkt ist u.a. Teil der Luftfahrtstrategie des DLR.

Autoren

Marc Böswald, Keith Soal, Vega Handojo

Kontakt

Dr.-Ing Marc Böswald

Leitung Strukturdynamik und Systemidentifikation
Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)
Institut für Aeroelastik
Bunsenstraße 10, 37073 Göttingen