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Vom Liegen und Lernen: Über Saiten, Seitenlage und Selbsterkenntnis

Freizeitbeschäftigung im Liegen
Gitarre lernen in Sechs -Grad-Kopftieflage ist nicht ganz einfach!

In diesem Blog zur DLR-NASA-Bettruhestudie „Sensorimotor Countermeasures Study (SMC)” berichten wir aus dem Leben der Probandinnen und Probanden sowie der Arbeit des großen Teams drumherum und was es bedeutet, Teil einer solch großen Studie zu sein.

Heute kommt eine Probandin zu Wort, die sich seit 29 Tagen in einer Kopftieflage von sechs Grad im Bett befindet. Wie ist der Alltag im Bett? Welche Experimente finden statt? Was sind die größten Herausforderungen? Wie teilt man sich die Zeit ein? Und wie beschäftigt man sich eigentlich? Im Folgenden berichtet sie exemplarisch von einem Tag im Leben einer Bettruhe-Probandin und ihre ganz persönlichen Erfahrungen auf der Mission als terrestrische Astronautin.

Saitenübungen
Die Probandin während ihrer täglichen Übungsroutine: Gitarre spielen lernen in der 60tägigen Bettruhe in sechs Grad-Kopftieflage

“If I lay here… If I just lay here… would you lay with me and just forget the world?” Ich übe die Akkorde zu diesen Liedzeilen täglich. Mehr als zehn bis 15 Minuten am Stück sind aber schwierig, weil das Handgelenk in dieser Position schnell verkrampft. Gitarre spielen zu lernen, und das im Liegen in sechs Grad Kopftieflage, ist eine selbstgewählte Herausforderung. Kopf hochheben, um die Saiten zu sehen? Streng verboten! Ich greife blind. Ich greife oft daneben. Es ist wie Twister für die Finger, nur dass keiner lacht, außer ich selbst. Es geht sehr langsam voran, aber ich habe ja Zeit… viel Zeit. Fast so viel wie eine Astronautin auf einer Reise zum Mars – nur dass meine Mission vor allem darin besteht, nicht aus dem Bett zu fallen.

Eigentlich ist ja diese ganze Reise hier eine selbstgewählte Herausforderung. Ich wurde schon einige Male gefragt, ob die Erfahrung, an dieser Studie teilzunehmen denn so ist, wie ich mir das zuvor vorgestellt hatte: Ist es schwer? Was machst du denn den ganzen Tag? Hast du keine Rückenschmerzen? Wie geht das mit dem Duschen? Und... der Toilette? Was ist mit Muskelabbau? Drei Monate keine frische Luft? Abseits der Gesellschaft?

Drei Monate für die NASA-Bettruhe-Studie auf der Probandenstation im :envihab des DLR, davon 60 Tage im Liegen. Mir fiel es auch schwer, mir das vorher wirklich vorzustellen. Statt klaren Bildern im Kopf hatte ich vor allem ein Kribbeln im Bauch. Neugierige Gespanntheit auf ein solches Ausnahmeerlebnis. Heute ist mein neunundzwanzigster Liegetag, und ich trage ein Lächeln im Gesicht. Danke, Bauchgefühl!

Die Halbzeit ist geschafft!
Motivation für die Probandin sind auch die netten Nachrichten vom Team der Bettruhestudie.

Diese Erfahrung ist eine ganz besondere. Im Liegen wird jede banale Alltagshandlung plötzlich zu einer aufregenden Angelegenheit. Essen auf der Seite liegend, mit der nicht dominanten Hand? Ein Lernprozess beginnt. Zähneputzen? Nur mit regelmäßigem Handwechsel und Verschnaufpausen. Da werden Muskeln beansprucht, die wahrscheinlich selbst die NASA nicht im Trainingsplan der Astronautinnen und Astronauten berücksichtigt. Haare kämmen? Kann man ebenfalls fast als sportliche Disziplin bezeichnen. Ich beneide meine kurzhaarigen Mitprobandinnen und -probanden. Duschen? Interessantes Gefühl, wenn das Wasser von den Füßen „hoch“ zum Kopf fließt (inklusive gratis Nasendusche). Alles ist bekannt und gleichzeitig neu. Anders. Ich finde das aufregend. Fremdartig und vertraut. Dinge, die man schon unzählige Male im Leben getan hat, nochmal neu zu erleben. Automatisiertes Verhalten wird dekonstruiert, Unbewusstes wieder bewusst. Kleinkindliche Freude über jede gelungene Anpassung.

Da gibt es diese kostbaren Momente der absoluten Selbstständigkeit. Mit einem halb eleganten Ruck drehe ich mich in Richtung Schrank und schiebe mit meinem heißgeliebten achtzig Zentimeter langen Plastik-Greifarm die Schranktür zur Seite. Ich fühle mich wie MacGyver in der Horizontallage und angle gekonnt nach einem frischen T-Shirt. Erfolgserlebnis! Es gibt nicht viel, was man hier ganz allein erledigen kann, und so ist jeder Funke Unabhängigkeit ein Grund zum Jubeln. Was nicht bedeutet, dass ich nicht auch gerne im Study Office anrufe. Dort sitzt 24 Stunden am Tag mindestens eine Person, die unsere Anrufe entgegennimmt und die auf elf kleinen Bildschirmen überwacht, dass wir alle gesund und munter unsere Tage in Schräglage verbringen.

Robbenartig ruckle ich mich rüber auf die andere Seite des Bettes, greife nach der Interkom und wähle die Null. Es tutet zweimal, jemand sagt „Jaa?“. Man kann hören, dass die Person lächelt. „Ich bräuchte mal eine Urinflasche.“ „Klaro, bringen wir dir!“ Hilfe zu brauchen, um das Alltäglichste zu erledigen, ist eine Lektion in Demut. Ich bin gesund. Ich liege hier und erlebe all das, weil ich es möchte, nicht weil ich muss. Klar, kein Liegender hier freut sich darauf, Bettpfannen zu bestellen, zu befüllen und wieder abholen zu lassen. Aber es gehört dazu. Es bringt einen in Kontakt mit der eigenen Schamgrenze und auch das ist eine wertvolle Erfahrung. Und das Team, das uns terrestrische Astronautinnen und Astronauten Tag und Nacht umsorgt, tut alles, um es uns so angenehm wie möglich zu gestalten.

Schreibwerkstatt im Bett
Auch während der DLR-NASA-Bettruhestudie SMC können die Probandinnen und Probanden ihren Tätigkeiten nachgehen.

Es klopft. Eine Mitarbeiterin vom DLR-Studienteam kommt herein und stellt mir das Urinflaschen-Set neben das Bett. „Wie geht’s heute?“ Wir schnacken. Sie erzählt mir, was der Herbst draußen so treibt, und in meinem Kopf entstehen bunte Bilder von raschelndem Herbstlaub und morgendlichen Nebelschwaden, die übers Feld ziehen. Dann zieht die Mitarbeiterin von dannen und schließt Vorhang und Tür hinter sich.

Wenn die Tür geschlossen ist, ist es ganz still. Nur die Klimaanlage surrt leise vor sich hin. Waren zu Beginn der Liegepartie vor allem die veränderte Körperwahrnehmung und die neu zu erlernenden Bewegungsabläufe besonders präsent, so rückt zur Halbzeit der Liegephase die eigene Innenwelt mehr und mehr in den Fokus. Lange rumliegen ist super, um Dinge klar zu kriegen. Es macht keinen Sinn, sich dagegen zu wehren, dass einem irgendwann große philosophische und doch ganz konkrete, lebensnahe Fragen im sechs Grad tiefer liegenden Kopf herumgeistern.

Plötzlich stelle ich mir Fragen wie: Was will ich eigentlich machen mit meinem Leben? Wie geht’s mir eigentlich wirklich so? Habe ich wirklich alle Staffeln meiner Lieblingsserie verstanden oder sollte ich lieber nochmal von vorne anfangen? Das letzte Jahr war vollgepackt und wild. Jetzt: Zeit, zu reflektieren. Zeit, einfach zu sein. Pausetaste. Mitten im und gleichzeitig fern vom eigenen Leben. Mir tut das gut. Wadenmuskulatur baut sich ab, innere Klarheit baut sich auf. Es klopft. Ich sehe das lächelnde Gesicht eines DLR-Mitarbeiters. Er holt meine Urinflasche ab und hat mir auch gleich die nächste Wasserflasche mitgebracht.

Die Fußsohle der Probandin wird mit einer Sonde stimuliert
Die Stimulation der Fußsohle wird mit unterschiedlichen Frequenzen durchgeführt, um die Druckrezeptoren in unterschiedlichen Hautschichten zu erreichen.
Sensibilitätsmessung per Knopfdruck
Mit Hilfe einer Sonde wird die Fußsohle mit ansteigender oder abnehmender Intensität stimuliert. Die Probandinnen und Probanden bestätigen per Knopfdruck, sobald sie einen Druck verspüren, beziehungsweise sobald der Druck nachlässt.

Heute Morgen stand ein Sensibilitätstest für meine Fußsohlen auf dem Programm. Bäuchlings auf einer Liege positioniert bekommt eine Apparatur an die Fußsohle angelegt, die nacheinander an Zeh, Fußballen und Ferse verschiedene Vibrationsmuster abgibt. Es kitzelt. Eine Stimme in meinem Kopfhörer sagt: „Descending“. Mein Job ist es, auf einen Knopf zu drücken, wenn die Vibration so sanft geworden ist, dass sie für mich nicht mehr spürbar ist. Ich sammle all meine Aufmerksamkeit in meinem großen Zeh. Die Theorie ist, dass die Empfindlichkeit der Fußsohle in der Liegezeit abnimmt, da die dortigen Druckrezeptoren in dieser Zeit kaum stimuliert werden. Im Liegen mit sechs Grad-Kopftieflage verändert sich außerdem die Verteilung der Körperflüssigkeiten: weniger Blut im Unterkörper, mehr in Oberkörper und Kopf.

Deswegen sehen unsere Gesichter mittlerweile auch rund und aufgedunsen aus, wie bei Astronautinnen und Astronauten nach ihrer Rückkehr aus der Schwerelosigkeit. Ich nenne das liebevoll mein kleines Mondgesicht. Danach kam der Beingeschicklichkeits-Test. Im Liegen presse ich meinen Fuß gegen ein Pedal, das auf einer Art Sprungfeder angebracht ist. Wenn ich zu fest drücke, gerät die Feder in Bewegung und mein Bein wackelt unkontrolliert hin und her. Ziel ist es, mit dem Bein für etwa zehn Sekunden genau den Punkt zu halten, an dem ich mit maximaler Kraft gegen das Pedal drücke und gleichzeitig die Feder noch unter Kontrolle halten kann. Heute ist es schwieriger als zu Beginn der Liegezeit. Mein Bein zittert. Kein Grund zur Sorge – ich finde es spannend, solche Veränderungen am eigenen Leib zu beobachten. Hier wird jede körperliche und psychische Veränderung streng überwacht, und unsere Gesundheit hat höchste Priorität.

Der Leg-Dexterity-Test
Beim sogenannten „Leg Dexterity Test“ drücken die Probandinnen und Probanden mit dem Fuß eine Feder zusammen und halten diese möglichst stabil.

Ein Blick auf die Uhr an meinem Handgelenk, die ich tags wie nachts trage und die mein Aktivitätslevel sowie meine Schlafzyklen aufzeichnet. 18:44 Uhr: In einer Viertelstunde gibt es Essen. Die perfekte Zeit für ein paar Etüden bevor mich ein Salat mit Süßkartoffelherzen und getrocknete Aprikosen erwarten. Ich nehme meine Gitarre in die Hand und greife blind von A-Dur zu E-Dur zu D-Dur und wieder zurück zum A. Ob Snow Patrol ein Ausmaß von 60 Tagen im Kopf hatten, als sie mit „Chasing Cars“ ein Lied über das gemeinsame Rumliegen geschrieben haben? Wahrscheinlich nicht. Ich greife motiviert in die Saiten. Die Akkorde schnarren leicht und das E klingt irgendwie schräg. Vielleicht ja genau sechs Grad schräg, denke ich und singe leise vor mich hin. „If I lay here… if I just lay here… would you lay with me and just forget the world?“

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