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Die Schönheit der Mikrostrukturen

Forscherin Maike Becker untersucht die Eigenschaften von Materialien bei deren Erstarrung.

Auf dem einheitlich grauen Bild auf dem Bildschirm zeigen sich ganz zart etwas dunklere Flecken, und Maike Becker rückt mit dem Stuhl näher heran. Ihre Augen blicken auf die rechte obere Ecke, wo sich im Grau in Grau die kaum wahrnehmbaren Veränderungen abzeichnen. Der Moment, in dem die flüssige Metallprobe unter der Röntgenstrahlung erstarrt, ist da. Dort, wo es dunkel wird, verfestigt sich gerade das Material. Die Kühlung und die Vakuumpumpe der Experimentanlage rauschen, eine rote Warnleuchte zeigt an, dass die Röntgenröhre in Betrieb ist. Nichts davon nimmt Maike Becker bewusst wahr. Ab jetzt läuft der Prozess ab, dem die Forscherin seit zehn Jahren ihre Arbeitszeit widmet. Ab jetzt interessiert sie nur noch eines: Was in der Aluminium-Germanium-Probe passiert, die sie zuvor mit einem kleinen Ofen geschmolzen hat. Mit einem Klick startet sie die Aufzeichnung der Daten.

Sterne und Strukturen

In Echtzeit kann Maike Becker die Aufnahmen der Röntgenröhre beobachten.

Wenn Materialproben erstarren, tun sie dies in unterschiedlichen Formen. In kleinen Sternen, in langen verästelten Strukturen, filigran oder kompakt. Mit dem Röntgengerät macht Maike Becker am DLR-Institut für Materialphysik im Weltraum die versteckte Schönheit der Mikrostrukturen sichtbar und analysiert sie. Ihre Versuchsobjekte lagert sie in kleinen Fläschchen mit silbrigen und rötlichen Kugeln. Sie hat jedes sorgfältig beschriftet. Kupfer. Silber. Germanium. Aluminium. Aluminium ist mehr als Aluminiumfolie, sagt sie. Es ist das häufigste Metall in der Erdkruste. Jeder begegne in seinem Alltag Produkten aus Aluminium und seinen Legierungen. Sie zählt sie auf: Autoindustrie, Bauindustrie, Luftfahrtindustrie. Poröse Stellen im Inneren sind bei allen Anwendungen unerwünscht. Wann sie bei welcher Legierung bei welchen Temperaturen bei der Herstellung von Produkten entstehen, ist etwas, das sie in ihren Röntgenbildern erkennt.

Ihr Beitrag zu den späteren Anwendungen steht ganz am Anfang: „Nur wenn man weiß, wie etwas im Kleinen funktioniert, kann man es auf das Große hochskalieren.“ Ihre Datenauswertungen dienen den einen als Grundlage, um Computersimulationen zu erstellen, den anderen dienen sie dazu, diese Simulationen zu validieren. Werden später einmal Aluminium-Bauteile für ein Auto gegossen, steckt zu einem gewissen Anteil auch ihre Grundlagenforschung zur Erstarrung des Metalls darin.

Was die Welt zusammenhält

„Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“ - die Materialwissenschaftlerin will die Prozesse in den Materialien verstehen.

Aus dem Grau im Grau wird mit jeder weiteren Sekunde des Experiments ein verzweigteres Netz aus Strukturen. Für diesen Versuch hat Maike Becker zwei Proben zwischen den beiden Seiten des Ofens positioniert - beides Legierungen aus Aluminium und Germanium, allerdings in unterschiedlicher Konzentration. Von der Probe auf der rechten Seite aus ragt ein Strang wie ein Ärmchen über die Lücke zur Probe auf der linken Seite. Beeinflusst eine geschmolzene Probe in einer anderen Konzentration die zweite Probe bei der Erstarrung? Das wird sich die Materialwissenschaftlerin bei der Bildauswertung genauer anschauen, Temperaturen und Zeitpunkte berücksichtigten.

Warum die dynamischen Prozesse, die für das menschliche Auge nicht sichtbar sind, so interessant sind, warum die Motivation auch nach zehn Jahren Materialphysik noch unverändert hoch ist, das erklärt die 35-Jährige mit einem Zitat von Goethes Faust: „Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“. Das Verständnis für Strukturen war bereits ihr Thema während ihres Studiums der Geowissenschaften. Die einen gruben Dinosaurierknochen aus, andere untersuchten die Sedimentablagerungen in Seen, um die Klimaveränderungen zu dokumentieren. Sie spezialisierte sich auf die Prozesse in Kristallen, wollte lernen, wie sich das Innere der Erde gebildet hat und sich entwickelt. Dass sie einmal beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt arbeiten würde, war ihr damals noch nicht so klar. „Aber die Forschungsgebiete liegen überhaupt nicht weit auseinander: Die Geowissenschaften untersuchen natürliche Materialien, die Materialphysik die menschengemachten Werkstoffe und ihre Eigenschaften.“

Über eine Initiativbewerbung kam sie dann zum DLR. „Ich wollte zur Raumfahrt.“ Dazu hatte sie schon vorher einen Bezug. „Star Trek“, sagt sie. „Ich habe ab der Voyager-Phase alles gesehen.“ Bei einem Parabelflug hat sie allerdings auch eine nicht-wissenschaftliche Einsicht gewinnen müssen: Schwerelosigkeit verträgt ihr Körper nicht gut - dann wird ihr übel. Heute ist sie im Institut die Expertin für Erstarrungsprozesse, die mit der Röntgenmethode beobachtet werden, und unterstützt bei der strategischen Ausrichtung, auf welche zukünftigen Forschungsfragen die Antworten gefunden werden sollten. Ein Projekt wird sich damit beschäftigen, wie das Recycling von Aluminium bereits beim Design von Produkten mitgedacht werden kann und wie aus Schrott dann wieder Neues entstehen kann. Zudem will die europäische Raumfahrtagentur ESA zum ersten Mal ein Röntgengerät auf die Internationale Raumstation ISS bringen, um dort unter anderem Erstarrungsprozesse in der Schwerelosigkeit durchzuführen. Dafür werden Vorexperimente in Laboren auf der Erde notwendig sein.

Weltweit im Austausch

Deutsch-amerikanische Zusammenarbeit: Prof. Jonathan Dantzig und Dr. Maike Becker.

Andere Forschungsbereiche veröffentlichen Fotos von fremden Himmelskörpern, lassen Roboter mit Astronauten zusammenarbeiten oder starten Höhenforschungsraketen, die auf einem Feuerstrahl in die Schwerelosigkeit fliegen. So etwas begeistert selbst Laien, weil sie sich darunter etwas vorstellen können. Mit der Materialphysik ist das anders. „Da habe ich kein Problem mit“, sagt Maike Becker. Die Aufmerksamkeit, sagt sie, hat sie in Fachkreisen der Materialwissenschaft. Zum Beispiel als Prof. Jonathan Dantzig von der University of Illinois sie auf einem Kongress angesprochen hat. Ihre Arbeit zur Erstarrung von Legierungen fand er spannend, eine perfekte Ergänzung seiner Forschung, die sich mit Computersimulationen dieser Phänomene beschäftigt. Das Ergebnis der internationalen Zusammenarbeit: eine gemeinsame Veröffentlichung.

Dantzig ist seit den Siebzigern in der Forschung aktiv, weltweit einer der Großen im Fachgebiet der Erstarrung von Materialien. Im Frühjahr dieses Jahres wurde er mit einer Vortragsreihe bei einer Fachkonferenz in San Diego geehrt. Maike Becker gehörte zu den eingeladenen Forschenden, die ihre Arbeit vorstellten. Zum Schluss war Dantzig selbst an der Reihe.  Auf den Folien seiner Präsentation hatte er einige seiner internationaler Kooperationspartner genannt. Zwischen renommierten Wissenschaftlern stand da ihr Name. „Maike Becker“. Davon hat sie ein Foto gemacht. Über ihrem Schreibtisch pendelt ein Mobilé mit Anhängern, die wie unterschiedliche Schneeflocken aussehen. Ein Geschenk von Dantzig aus dem 3-D-Drucker, das verschiedene Erstarrungsformen von Aluminium-Legierungen zeigt.

Hoffen auf den Heureka-Moment

Das Ziel ihrer Forschungsarbeit: Strukturen und Prozesse verstehen.

Die Arbeitstage der Materialwissenschaftlerin sind unterschiedlich. Experimente, Bildbearbeitung, Datenanalyse, die Betreuung von Studierenden und Promovierenden, Konferenzen, Veröffentlichungen. Der beste Moment von allen - „wenn ich einen Heureka-Moment habe, in dem ich einen Prozess verstehe.“ Archimedes hatte „Heureka!“ gerufen, als er in einer Wanne mit Wasser saß und erkannte, dass das verdrängte Wasser dem Volumen seines Körpers entsprach. Das Archimedische Prinzip war entdeckt. Etwas, was nicht jeden Tag bei der Arbeit geschieht.

Die beiden Proben sind nun komplett erstarrt. Wie ein Netz aus Straßen und Flüssen sieht die letzte Röntgenaufnahme aus. Ein letztes Mal schaut Maike Becker auf das Bild mit den starken Schwarz-Weiß-Kontrasten, dann dreht sie den Schlüssel, der die Röntgenröhre ausschaltet. Die rote Warnleuchte an der Anlage erlischt. 2300 einzelne Aufnahmen liegen auf ihrer Festplatte, die die Erstarrungsprozesse in all ihren Phasen festhalten. Die Vermischung der beiden unterschiedlichen Konzentrationen der Metallproben will sie beim nächsten Experiment noch verbessern. Da ist noch Luft nach oben.