AGBRESA: Gedanken eines terrestrischen Astronauten
Ich sah zum Fenster und wusste, dass etwas anders war...
Dieser Blogbeitrag stammt von unserem Probanden E, einem Teilnehmer der laufenden AGBRESA-Studie, der in seinem irdischen Leben Schriftsteller ist.
Ich sah zum Fenster und wusste, dass etwas anders war. Unbewusst riss ich die Augen auf. Das meerfarbene Licht schimmerte grün und lautlos. An den beiden Glasfronten, die zwischen meinem Fenster und dem Zentrifugen-Silo in den Himmel ragen, hingen dicke dunkle Perlen. Regen! Der erste seit drei Wochen, der erste seit unserer Ankunft. Es war erstaunlich. Ich konnte mich erinnern, dass es selbstverständlich war: dieses Wasser, das aus einem schwerelosen Himmel kommt und den Boden schwer macht und wild. Und dennoch war ich überrascht. Man hatte sich schon bestens daran gewöhnt, ohne Regen am Fenster auszukommen.
Heute, fünf Wochen später, hängt ein Gewitter über Köln. Wie Insekten kleben die Tropfen am Glas. Das erste Mal, dass mir der Regen auffiel, liegt bereits ziemlich lange zurück, wenn man sich die bilanzierten Stunden der Tage vergegenwärtigt, ist aber, für das Zeitverständnis von Proband E, kaum länger passé als ein paar Mal Aufwachen und Einschlafen. 58 Tage liegen bereits auf unserem Haben-Konto, ohne dass man es recht bemerkt hat. Die Zeit wogt durch die Wochen wie Nebel. Während wir vollkommen von ihr vereinnahmt sind, kommt sie, so ihr ewiger Kunstgriff, wunderbar ohne uns aus. Längst schon haben wir uns fallen gelassen und machen große Augen, wenn die Nacht einen weiteren Abend in den Schlaf wendet.
Ich hatte nicht nur vergessen, dass es Regen gibt, Sonne und Himmelweiß, sondern auch viele andere dem hiesigen Leben entschwobene Geister. Als ich mir vor ein paar Tagen eine Zeitschrift habe mitbringen lassen, kramte ich aus den Tiefen meines Rucksacks in der Tat einen Geldbeutel hervor. Ich hatte vergessen, so etwas zu besitzen. Die Münzen und Scheine, die ich bald in der Hand hielt, wogen kaum mehr als Phantasiegeld. Es war lächerlich. Auf meiner Liste der Dinge, derer man sich kaum mehr entsinnen kann, tummelten sich bald: einkaufen gehen, Teller abwaschen, eine Türklinke drücken, ins Klo pinkeln (und nicht in eine Plastikflasche, die schnurstracks ins Labor wandert), Bankautomaten, U-Bahn Haltestellen, die Nachbarn von oben, Rechnungen, angehustet werden, Heizungskellerschlüssel, Wecker, an Waschpulver riechen, Muskelkater, Fahrzeugkontrolle, Wasserhahn, Liegestütz, Verpackungen, Whisky, Socken anziehen, tagelanger Regen.
Gleichzeitig bemerkt man Veränderungen an der Körper- und Sinneswelt, die man nie hätte erahnen können. An oberster Stelle stehen hier 1) die Empfindlichkeit der nunmehr amorphen Fußsohlen, die nun, entfesselt von dem Druck, 87 Kilogramm über den Erdboden zerren zu müssen, so hornhautfrei, pergamentdünn und sensibel werden, als besäße man dort unten ein völlig neues Stück fleischliches Sein. Hinzu kommen 2) eine ungeahnte Hingabe zu Rachmaninoff und 3) die Mango. Mittlerweile weiß die Weltraumforschung, dass sich im All der Geschmack verändert. Astronauten, die Extraportionen ihrer Lieblingsspeise mit in die Schwerelosigkeit nehmen, wundern sich oft, dass sie genau diese kaum herunterbekommen, sobald sie der Intimität ihres blauen Planeten entkommen sind. Das Essen, das uns hier drei Mal am Tag serviert wird, ist zum Glück großartig. Jedoch schaudere ich mittlerweile gerade vor einem der kulinarischen Highlights, der knallgelben, in triefende Würfel geschnittenen Mango. Bisweilen eine semigöttliche Geschmacksexplosion tropischen Dicksonnenzaubers, schmeckt das nun ekelgelbe Gewächs nach sechs Wochen Schwerelosigkeit nur noch aufdringlich, beizend, fake und, der Gedanke erschrak mich, geradezu herausfordernd promiskuitiv. Überkandidelt, wie meine Oma sagen würde. Vergesst die Mango, will ich dem Küchenteam zurufen, das mit Pipetten und Nährstofftabellen bewaffnet jede Mahlzeit auf Gramm genau abwiegt, vergesst den zuckerkranken Postkartensaft und bringt mir den Opel Corsa unter den Mahlzeiten, schleppt sie duftend heran, besingt sie mantrisch, die Schüsseln voller leicht gesalzenem Reis.
Als ich vor ein paar Tagen eine Jogginghose anzog, die bislang nur im Schrank herumlag, fand ich in der Hosentasche einen verwaschenen Kassenbon. Einen Kassenbon! Aus einem Supermarkt! Ob ich Datteln noch lieben würde, Nippon Puffreis, Bier? Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Er legt sich acht Wochen ins Bett und die Zeit bricht funkelnd unter ihm zusammen. Er vergisst und vergibt, obschon er so anwesend ist wie jemals zuvor. Es sind nur noch 17 Tage, bevor die Reha und die Nachuntersuchungen beginnen, noch 32, bis wir zurückkehren zu Supermarktkassen, Treppen, Tresen und Klingelschildern. Schon jetzt fühlt es sich an, als seien wir nie weg gewesen.
(Nachtrag: Nur einen Tag nach dem letzten Regen schwebt eine Flocke vor meinem Fenster vorbei, eine weiße dicke Polle wie der Kopf einer Pusteblume. Das Licht glitzert ins blaugrüne Glas. Vielleicht ist er ja mittlerweile da, der Sommer.)
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