Samstag, 8. März 2009
Esrange ist ein James-Bond-Setting, wie es sich Ian Flemming kaum hätte besser ausdenken können. Auf dem Areal ragen ausrangierte Höhenforschungsraketen wie Statuen gen Himmel. Sie weisen die Richtung, in die es von hier aus geht. Irgendwo, versteckt am Rande eines Waldpfades, liegt der Raketenfriedhof. Er ist die letzte Ruhestätte der ausgedienten Bauteile. Ein kleiner Berg zylindrischer Metallzylinder, aufgeschichtet wie Gebeine in einer Krypta.
Das Sperrgebiet ist weiträumig umzäunt, die Sicherheitsvorkehrungen berechtigterweise groß. Denn hier wird mit explosivstem Stoff gearbeitet. Bis zu 750 Kilometer hoch, doppelt so weit wie die Flugbahn der Internationalen Raumstation ISS, werden hier Forschungsraketen in den Weltraum geschossen.
Die größten Ballone Europas starten von hier bis an den oberen Rand der Stratosphäre. Auch horcht man von hier aus ins All: Auf den Hügeln rund um das backsteinerne Gebäude der Missionskontrolle stehen haushohe Radarschüsseln. Weitere acht Kilometer westlich ist zudem die Trackingstation der Europäischen Weltraumorganistation (ESA). Alle verfolgen sie die Flugbahnen von Satelliten, welche die Erde auf polarem Orbit umrunden. In Lappland ist die Welt nicht genug.
Den letzten Schliff erhält das Bond-Feeling durch das illustre Eishotel im nahe gelegenen Dörfchen Jukkasjärvi. Das Gebäude wird alljährlich neu errichtet. Für 360 Euro kann man dort die Nächte in kunstvoll gestalteten Eisgrotten verbringen, um bei minus vier Grad in Schlafsäcken auf leicht vor sich hin müffelnden Rentierfellen zu liegen. Dafür umgeben den Gast kristallene Kobolde, ins Eis geschlagene Drachen oder eine Armee kleiner Schneemänner, die über die Ruhenden mit frecher Fratze wachen.
Esrange steht seit rund 45 Jahren im Zeichen der Raumfahrtforschung
Esrange ist ein wissenschaftlich-technisches Monasterium, eine Rückzugsort für Forscher und Tüftler, Himmelsstürmer und Präzisions-Ingenieure. Zwischen 1964 und 1966 wurde es von der European Space Research Organisation (ESRO), einer der Vorgängerorganisationen der ESA, errichtet.
Esrange war der erste Ort, von dem aus das westliche Europa ab 1966 gemeinschaftlich in den Weltraum startete. Forscherteams, vor allem aus Deutschland und Großbritannien, schweißte das nächtelange Ausharren bei arktischen Temperaturen zusammen. Durch ihre Arbeit mit Höhenforschungsraketen legten sie den Grundstein für die europäische Raumfahrt. Seit 1974 werden von hier aus auch Forschungsballons gestartet.
Deutschland nutzt die Möglichkeiten, die Esrange bietet, umfänglich. Die längste Tradition hat das Programm TEXUS (Technologische Experimente unter Schwerelosigkeit): Forschung auf Raketen, die bis zu 250 Kilometer hoch aufsteigen. Auch im vierten Jahrzehnt seines Bestehens hat TEXUS nichts von seiner Faszination für die Wissenschaft verloren. Auf bis zu zwei Flügen pro Jahr untersuchen Wissenschaftler Phänomene aus Biologie, Physik und Materialwissenschaft. Auch 2009 sollen wieder zwei TEXUS-Missionen starten.
Daneben werden in Esrange auch andere Trägersysteme für die Forschung in Schwerelosigkeit eingesetzt. Das MAXUS-Programm der ESA nutzt eine einstufige Feststoffrakete vom Typ Castor 4B, um eine Nutzlast von bis zu 800 Kilogramm in eine Höhe von über 700 Kilometern zu befördern. Während des Fluges herrscht für etwa 13 Minuten Schwerelosigkeit. Zwischen 1991 und 2006 fanden sieben MAXUS-Missionen statt. Für Ende 2009 ist der nächste Flug vorgesehen.
Seit 1986 führt die Swedish Space Corporation das MASER-Programm (Materials Science Experiment Rocket) mit schwedischen und ESA-Nutzlasten durch. Da bei MASER - wie bei TEXUS - die Skylark 7 beziehungsweise die VSB-30 eingesetzt werden, beträgt die Dauer der Schwerelosigkeit auch hier etwa sechs Minuten. Bis 2005 wurden zehn MASER-Missionen gestartet.
Von 1993 bis 1998 fanden außerdem sechs Missionen im deutschen Mini-TEXUS-Programm statt. Der Träger mit den zwei Feststoff-Raketenstufen Nike und Orion beförderte eine Nutzlast von jeweils 100 Kilogramm in eine Flughöhe von 140 Kilometern. Die Dauer der Schwerelosigkeit betrug hierbei etwa drei Minuten.
Neu im Programm des DLR ist das Studentenprogramm REXUS/BEXUS (Raketen-/Ballon-EXperimente für Universitäts-Studenten). Es ermöglicht Studenten, eigene praktische Erfahrungen bei der Vorbereitung und Durchführung von Raumfahrtprojekten zu gewinnen. Ihre Vorschläge für Experimente in der Gondel eines Ballons oder in Höhenforschungsraketen können jährlich im Herbst eingereicht werden.
Ballonmissionen für Wissenschaftler und Studenten
Die BEXUS-Ballons eignen sich besonders für Atmosphärenforschung und technologische Experimente. Die Helium-Ballons haben ein Volumen von 10.000 bis 12.000 Kubikmeter und steigen bei einer Flugzeit von drei bis sechs Stunden auf 20 bis 35 Kilometer Höhe. Die Gesamtlänge des Ballonsystems kann bis zu 100 Meter betragen, die Nutzlast maximal 100 Kilogramm. Die wissenschaftlichen Fragenstellungen bei den REXUS-Forschungsraketen sind ähnlich. Sie erreichen eine Flughöhe von etwa 100 Kilometer und bieten Experimentierzeiten von knapp drei Minuten.
Sind die BEXUS-Missionen bereits beeindruckend, so starten von Esrange regelmäßig wirklich große Ballons. 200.000 Kubikmeter wird der Ballon für die aktuelle Mission MIPAS-B/TELIS umfassen, um die mit 750 Kilogramm schwerste europäische Nutzlast zur Atmosphärenforschung in 45 Kilometer Höhe zu tragen. Doch das DLR setzt im Sommer 2009 noch einen drauf: In deutsch-amerikanisch-spanischer Kooperation wird Sunrise auf die Reise von Schweden nach Kanada geschickt.
Das Teleskop wird auf seiner luftigen Fahrt in gut 35 Kilometern Höhe UV-Aufnahmen der Sonnenatmosphäre machen. Diese werden dazu dienen, die Physik unseres Zentralgestirns besser zu verstehen. Einen Ballon braucht man hierfür deshalb, weil die untere Atmosphäre die UV-Strahlung zu stark dämpft. Das Volumen dieses Großballons wird 1,3 Millionen Kubikmeter betragen, die Nutzlastgondel 1,4 Tonnen wiegen.
Auf Esrange werden die Errungenschaften der Montgolfière aus dem 18. Jahrhundert und die des Raketenflugs aus dem 20. Jahrhundert für die Forschung von heute verwendet. Aber noch weiter in die Zukunft blick man hier: 2006 unterzeichnete die anglo-amerikanische Firma Virgin Galactic mit der schwedischen Regierung einen Vertrag zur Nutzung des Startplatzes Kiruna für private Raumflüge wohl situierter Touristen, die ab frühestens 2011 zu Kurztrips ins nahe All in 100 Kilometer Höhe starten können. Ein Flug soll dann zunächst 200.000 US-Dollar kosten, dafür ist man sechs Minuten lang schwerelos und erhält eine neue Perspektive auf unseren Heimatplaneten. Von Esrange aus werden diese Höhenflüge kontrolliert werden - soweit weg von Ian Flamings Moonraker-Vision ist man dann nicht mehr entfernt.