Die Nahordnung der Schmelze übt wesentlichen Einfluss auf die fest-flüssig Grenzfläche aus. In dem negentropischen Model von Spaepen und Thompson wird die Grenzflächenenergie auf rein entropische Beiträge zurückgeführt. Dieses Model gestattet die Berechnung der Grenzflächenenergie für Kristallkeime unterschiedlicher Struktur, die sich in einer unterkühlten Schmelze mit vorwiegend ikosaedrischer Nahordnung fünfzähliger Symmetrie befinden
Je ähnlicher die Nahordnungen in der Schmelze und im Keim sind, um so geringer ist auch die Grenzflächenenergie oder umgekehrt, je verschiedener diese Nahordnungen sind, um so größer ist die Grenzflächenenergie.
Die Grenzfläche bildet die Barriere zur Bildung wachstumsfähiger Keime der festen Phase in einer unterkühlten Schmelze. Die Aktivierungsenergie ∆G* zur thermischen Aktivierung eines kritischen Keims ist daher ganz wesentlich abhängig von der Grenzflächenenergie s und damit letztlich seiner Struktur, wenn man davon ausgeht, dass die Nahordnung in Metallschmelzen einheitlich ikosaedrische Symmetrie aufweist.
Nach dem klassischen Keimbildungsmodell gilt: ∆G* = const. s3/∆G2, wobei die freie Enthalpiedifferenz ∆G zwischen fester und flüssiger Phase im einfachsten Fall angenähert werden kann durch ∆G = ∆Hf ∆Tr, wobei ∆Hf die Schmelzwärme und ∆Tr = ∆T/TL die relative Unterkühlung (TL: Schmelztemperatur) darstellt. Dies bedeutet, dass die maximale Unterkühlbarkeit von der Kristallstruktur des Keims abhängt.
Wir haben elektromagnetischen Levitationstechnik angewendet, um eine Reihe metallischer Systeme auf ihre maximale Unterkühlbarkeit zu untersuchen. Besonders geeignet für solche Untersuchungen sind Legierungen, diequasicrystalline oder polytetraedrische Phasen bilden. Diese Phasen besitzen ebenfalls eine ikoseadrische Nahordnung im festen Zustand, die derjenigen in der unterkühlten Schmelze verwandt ist. Daher sollte die maximale Unterkühlbarkeit solcher Phasen deutlich geringer sein, als diejenige von kristallinen Phasen, die keinerlei fünfzählige Symmetrien aufweisen. Die Ergebnisse unserer Messungen sind in der untigen Tabelle zusammengetragen. Die Phasen der untersuchten Legierungen sind nach dem Grad ihrer polytetredrischen Ordnung sortiert. Die I-Phase besitzt den höchsten Grad fünfzähliger Symmetrie in drei Dimensionen, die D-Physe ist quasikristallin in zwei Dimensionen und kristallin in der dritten Dimension, die l- und µ-Phase sind kristallin, weisen aber große Einheitszellen mit polytetraedrischer Ordnung auf, während die kristalline b-Phase keinerlei ikosaedrische Ordnungselemente besitzt und in der kubischen Cs-Cl Struktur vorliegt.
Diese Phase eignet sich daher als kristalline Referenz, die eine besonders große Unterkühlung zeigen sollte, da vor deren Kristallisation die ikosaedrische Nahordnung der Schmelze gebrochen werden muss, bevor sich die Translationssymmetrie der kristallinen Struktur aufbauen kann.
Al72Pd21Mn7 Al13Fe4 Al5Fe2 Al74Co26 Al65Cu20Co1 I-Phase l-Phase µ-Phase D-Phase b-Phase ∆Tr 0.09 0.12 0.14 0.15 0.25 a 0.32 0.33 0.37 0.40 0.63
Die experimentellen Untersuchugen an Legierungen, die Phasen unterschiedlicher polytetraedrischer Ordnung bilden, zeigen verschiedene relative Unterkühlungen ∆Tr, aus denen entsprechend variierende dimensionslose Grenzflächenenergie a abgeleitet werden derart, dass diese mit zunehmendem Grad quasikristalliner Ordnung abnehmen. Demzufolge wird die Unterkühlbarkeit und die Grenzflächenenergie um so geringer, je mehr sich die Nahordnung der unterkühlten Schmelze und der kristallisierenden Phase ähneln. Diese Ergebnisse unterstützen daher die Schlussfolgerungen, die aus den Streuexperimenten gezogen wurden, die mehr oder weniger systemunabhängig eine ikosaedrische Nahordnung in unterkühlten Schmelzen metallischer Systeme nahelegen.
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