Broschüre: Deutschland auf der ISS (2007)
COLUMBUS
Im Vergleich zur frühen Nutzungsphase der Internationalen Raumstation ISS erweitern sich die Forschungsmöglichkeiten in den kommenden Jahren deutlich: Neben Experimenten zur Gravitationsbiologie arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland vermehrt an Projekten zur Strahlen- und Astrobiologie. Hierfür bieten neue Geräte im europäischen Modul Columbus, aber auch auf dessen externen Plattformen, ausgezeichnete Möglichkeiten.
In der Raumfahrtmedizin wird der Fokus vor allem auf die Untersuchung der Anpassung des menschlichen Körpers an geänderte Schwerkraftbedingungen und an ein Leben in Isolation liegen. Diese Untersuchungen, wie auch die Projekte zur Strahlen- und Astrobiologie, liefern wichtige Beiträge für das Verständnis grundlegender Prozesse des Lebens und für die Verbesserung der Lebensbedingungen auf der Erde. Gleichzeitig dienen sie aber auch der Vorbereitung von späteren astronautischen Langzeitmissionen zum Mond oder anderen Explorationszielen.
Seit Beginn der Evolution spielt die Schwerkraft für alle Organismen eine entscheidende Rolle. Seit vielen Jahren gehen Forschende daher der Frage nach, wie Organismen die Schwerkraft wahrnehmen und verarbeiten, woher also beispielsweise Pflanzen wissen, wo oben oder unten ist, und wie Wurzeln und Sprossen es schaffen, in die „richtige“ Richtung zu wachsen.
Viele Geheimnisse konnten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch mit Hilfe von Experimenten im Weltraum der Natur schon entlocken: Sie entdeckten, wie spezielle Pflanzenzellen über die Verlagerung von zellulären Partikeln auf eine Änderung der Schwerkraftrichtung reagieren. Auch die Beteiligung des Zellskeletts und verschiedener Botenstoffen wurde nachgewiesen. Auf der Ebene von Genen und Proteinen konnten sie wichtige Signalwege aufklären und Anpassungen feststellen.
Doch die genauen Vorgänge bei den einzelnen Schritten, von der Wahrnehmung der Schwerkraft bis hin zur Antwort der Pflanze, sind noch nicht vollständig geklärt. Hier setzen Columbus-Experimente beispielsweise in der Anlage BIOLAB an, die dieser Frage mit modernen molekularbiologischen Methoden nachgehen.
Stärke und Zusammensetzung der Strahlung im Weltraum schwanken sehr stark. Von daher sind auch in Zukunft weitere Messungen vorgesehen, um das Strahlenrisiko besser abschätzen zu können. Aufgrund seiner langjährigen Expertise auf diesem Gebiet wird das DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin in Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen Partnern diese Messungen auch in den kommenden Jahren innerhalb und außerhalb der ISS fortsetzen.
Fast noch wichtiger als die dosimetrische Erfassung der Stärke und Zusammensetzung der Strahlung ist die Analyse ihrer biologischen Wirksamkeit. Die Phantompuppe "Matroshka", ein hoch entwickelter Simulator des menschlichen Oberkörpers mit all seinen Organen, hat hier schon gute Ergebnisse geliefert. Gespickt mit Tausenden von Sensoren werden mit „Helga“ und „Zohar“ zwei weitere Simulatoren in Form des weiblichen Oberkörpers beim ersten Flug des Orion-Raumschiffs die Passagiersitze einnehmen und Daten zur Strahlenbelastung im All sammeln.
Für Astrobiologinnen und -biologen besonders ergiebig sind Expose-Anlagen auf externen Plattformen der ISS. Neben dosimetrischen Strahlungsmessungen werden in diesen Anlagen verschiedene Organismen und organische Moleküle den extremen Umgebungsbedingungen des Weltraums ausgesetzt und ihre Überlebensfähigkeit beziehungsweise Veränderung untersucht. Dies dient der Erforschung von Entstehung, Evolution und Ausbreitung des Lebens und damit der Beantwortung der Frage, wie eventuell einst das Leben auf die Erde kam.
In der Raumfahrtmedizin liegt der Schwerpunkt der deutschen ISS-Experimente in den kommenden Jahren auf dem umfassenden Verständnis der Veränderungen im menschlichen Körper. Im Sinne einer integrativen Physiologie, in welcher der ganze Mensch im Zusammenspiel seiner verschiedenen Systeme und Organe betrachtet wird, berücksichtigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Wechselwirkungen zwischen Gehirn, dem System von Knochen und Muskeln, Kreislauf, Stoffwechsel, Immunsystem und hormoneller Regulation.
Ein neuer erfolgversprechender Ansatz liegt zukünftig in der Untersuchung von sogenannten Organoiden und Zellkonstrukten. An diesen organähnlichen Geweben können Forschende eine Vielzahl von Untersuchungen durchführen, die an Raumfahrenden nicht möglich sind. Ziel der Experimente ist es, die Mechanismen der körperlichen Veränderungen zu verstehen und dann geeignete Gegenmaßnahmen zu entwickeln, die nicht nur Astronautinnen und Astronauten, sondern vor allem dem Menschen auf der Erde zugutekommen.
Die ISS-Forschungsaktivitäten im Bereich Physik und Materialwissenschaften werden in den kommenden Jahren um neue Bereiche wie die Quantenphysik erweitert und um neue Möglichkeiten wie etwa die in-situ-Prozessierung von Materialien ergänzt. Neue Experimente zur Untersuchung granularer Materie oder der Strömungen in Planetenatmosphären kommen hinzu. In manchen Disziplinen wird der Schwerpunkt auf neue, in vielen Fällen explorations-relevante Fragestellungen gelegt, wie etwa die Feuersicherheit in der Verbrennungsforschung.
Dabei wird wie bisher neben der Relevanz der Fragestellungen für die Weltraumforschung immer auch der terrestrische Nutzen betrachtet. So sind miniaturisierte Quantensensoren auch auf der Erde von Interesse (beispielsweise in der Geodäsie oder im Schiffsverkehr), ebenso Verbesserungen bei der Prävention beziehungsweise Früherkennung von Bränden oder bei der Optimierung von industriellen Werkstoffen.
Etwa 90 Prozent der metallischen und halbleitenden Werkstoffe entstammen schmelzmetallurgischen Verfahren. Um die bestehenden Technologien zu optimieren oder neue zu entwickeln, arbeiten die Forschenden neben praktischen Versuchen mit Computersimulationen, damit energie- und zeitaufwendige Vorversuche im großtechnischen Maßstab verringert werden können. In der Schwerelosigkeit werden Störkräfte in einer Schmelze ausgeschaltet, so etwa Auftrieb und Ablagerung von Komponenten unterschiedlicher Dichte. Das sind entscheidende Vorteile, um die Wechselbeziehung zwischen Erstarrungsbedingungen, Werkstoffgefüge und den daraus resultierenden Eigenschaften aufzuklären. Hierfür werden Experimente im Materials Science Laboratory (MSL) durchgeführt, bei denen die erstarrten Proben zur Auswertung auf die Erde zurückgebracht werden.
Neuerdings finden auch Experimente in der Microgravity Science Glovebox (MSG) statt, bei denen anstelle von Metallen transparente, organische Materialien – sogenannte Transparent Alloys – verwendet werden, deren Schmelz- und Erstarrungsverhalten vergleichbar zu dem von Metalllegierungen ist und die unmittelbar beim Prozessieren beobachtet werden können. Ein Rücktransport der Proben zur Erde entfällt hier. Eine von deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beigesteuerte Probe soll während der Cosmic-Kiss-Mission von Matthias Maurer in der Glovebox prozessiert werden. Parallel wird derzeit eine neue Anlage namens XRF für die ISS entwickelt, mit der in den kommenden Jahren erstmalig durch Röntgendiagnostik auch metallische Schmelz- und Erstarrungsexperimente in-situ verfolgt werden können.
Ein weiteres Ziel der materialwissenschaftlichen Experimente ist es, die thermo-physikalischen Eigenschaften reaktiver Metallschmelzen wie etwa die Leitfähigkeit oder die Zähigkeit durch behälterfreies Prozessieren wesentlich genauer zu messen als unter Schwerkrafteinwirkung auf der Erde. Hierfür dient die Anlage EML (Elektro-magnetischer Levitator). Vor kurzem wurde für EML eine dritte Probenserie gefertigt, die nun auf der ISS prozessiert werden wird. Darüber hinaus wurde bereits eine vierte Probenserie ausgewählt und ein weiteres Upgrade für die EML-Anlage beschlossen.
Während der Cosmic-Kiss-Mission wird auch die Aushärtung von Zementgemischen untersucht. Ziel des Experiments MASON/Concrete Hardening ist es, erstmalig die Aushärtung von Beton unter Schwerlosigkeit zu untersuchen. Im All entfallen Sedimentation und Konvektion. Spezielle Container ermöglichen es, Sand, Zement, Wasser und Zuschlagstoffe zu mischen, ohne dass der aggressive Zementstaub oder die flüssige Zementmasse entweichen.
Die für die Aushärtung relevanten physikalischen Prozesse sollen durch den Vergleich mit Proben, die unter Erdschwerkraft ausgehärtet wurden, identifiziert werden. Damit hofft man, den terrestrischen Herstellungsprozess hinsichtlich Materialeigenschaften und herstellungsbedingter CO2-Emission optimieren zu können. Außerdem sind die Erkenntnisse auch für zukünftige Explorationsaktivitäten relevant, beispielsweise in Hinblick auf Errichtung von Strukturen auf der Mondoberfläche.
Neben der Optimierung von Zündvorgängen ist in den letzten Jahren das Thema Feuersicherheit in den Fokus der Forschung gerückt. Große internationale Projekte mit deutscher Beteiligung wie SAFFIRE oder FLARE stehen im Zeichen dieses neuen Themenschwerpunkts. Ein neuer internationaler Standard zur Brennbarkeit von Materialien unter Mikrogravitationsbedingungen soll entwickelt werden, da bisherige Standards allein unter Erdschwerkraft abgeleitet wurden. Außerdem soll der Einfluss der Oberflächenstruktur von Materialien auf die Ausbreitung von Flammenfronten untersucht werden. Die ersten Experimente mit dem japanischen FLARE-Experiment, das im Kibo-Modul untergebracht ist, sind für Ende 2021 vorgesehen. Darunter werden auch einige deutsche Proben sein.
Mit dem Cold Atom Laboratory (CAL) der NASA hat 2018 auch die Quantenphysik auf der ISS Einzug gehalten. Mit Quanten-Experimenten unter Mikrogravitation sind deutlich präzisere Experimente möglich, da die Ensembles aus ultra-kalten Atomen (Bose-Einstein-Kondensaten) unter Schwerelosigkeit deutlich langlebiger sind als auf der Erde. Die Experimente dienen der Überprüfung unseres physikalischen Weltbildes, sind andererseits aber auch ein wichtiger Treiber, um den Reifegrad von Quantentechnologien für Raumfahrtanwendungen voranzutreiben, beispielsweise in den Bereichen Navigation (optische Uhren, Trägheitssensoren) oder Erdbeobachtung (Schwerefeldmessungen).
Deutsche Forscher, die durch die Erfolge der Experimente QUANTUS und MAIUS international für Aufsehen gesorgt haben, sind an CAL beteiligt. Parallel dazu wird derzeit im Rahmen einer deutsch-amerikanischen Kooperation bereits an dem Experiment BECCAL gearbeitet, dass ab 2025/26 als Nachfolger von CAL auf die ISS gebracht werden soll.
Perspektivisch soll auch die Forschung mit komplexen Plasmen und Plasmakristallen nach dem Ende der PK-4-Anlage eine Fortsetzung finden, da immer noch zahlreiche Fragen der physikalischen Grundlagenforschung geklärt werden müssen, zum Beispiel Phasenübergänge oder die theoretische Beschreibung von Turbulenz. Ein Nachfolger für PK-4 namens COMPACT wird derzeit als internationale Kooperation unter deutsch-amerikanischer Führung diskutiert.
Eine dritte Disziplin der fundamentalphysikalischen Forschung auf der ISS stellt die „Labor-Astrophysik“ dar. Ein zentrales Thema ist die Planetenentstehung: Die ersten Schritte von kleinsten Staubpartikeln hin zu größeren Materialansammlungen, die sich gravitativ gegenseitig anziehen und schließlich zu größeren Körpern wie etwa der Erde führen, sind bis heute nur sehr vage verstanden. Experimente wie LAPLACE, bei der die Dynamik der Staubzusammenballung in Schwerelosigkeit nachgestellt wird, sollen dies ändern. Als internationales Experiment unter deutscher Führung soll LAPLACE den Geheimnissen der Planetenentstehung ab Sommer 2022 auf die Spur kommen.